Die Unverfrorenheit des Barbaren

Über Ortegas Gassets „Aufstand der Massen“

Von Stefan DiebitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Diebitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Alles in der Welt“, schreibt Ortega gleich im ersten Kapitel und verrät damit vielleicht das Geheimnis der nun schon Jahrzehnte währenden Wirkung seines Essays, „ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohl geöffnete Augen.“ Wenig später verspricht er, die seine Überlegungenen anregende Tatsache der Überfüllung „ad oculos“ zu demonstrieren. Ortega, wiewohl belesen wie nur wenige, war weit davon entfernt, seine Vorstellungen aus Büchern herzuleiten, sie umständlich mit Zitaten zu belegen oder empirische Studien für den Beweisgang heranzuziehen, sondern seinen Denkstil bestimmt der Gedanke, dass die Wahrheit ganz unverhüllt zu Tage liegt und jedem unvoreingenommenen Blick sichtbar wird.

Über den Massenmenschen spricht Ortega nicht wirklich mit Zuneigung, sondern nennt ihn einen Barbaren, vor allem, weil er zwar die Technik nutzt und wohl auch zu schätzen weiß, aber nicht die Wissenschaft als die Grundlage unseres Wohlstands. „Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist es jedoch, daß die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen.“ Der Massenmensch ist ein „Primitiver, ein Naturmensch“ (letzteres Wort auch im Original deutsch). Ortega wirft dem Massenmenschen weder seine große Zahl noch seine mangelhafte Bildung, sondern Trägheit und Selbstzufriedenheit vor, und entsprechend ist für ihn Adel gleichbedeutend mit „gespanntem Leben“. Der große Einzelne, dessen Lob er singt, widmet sein Leben, seine Arbeitskraft, seine ganze Energie etwas Höherem. Muss man hinzufügen, dass Ortega damit zuallerletzt auf den Geburtsadel zielt?

Jeder muss selbst sehen, ob er der 1929 allererst vorgetragenen Analyse des großen Spaniers auch heute noch zustimmen kann, etwa seinen Hinweisen auf den Zusammenhang von Technik und liberaler Demokratie folgen mag oder die Charakteristik des Massenmenschen zutreffend findet. Das Buch wurde in Deutschland 1931 veröffentlicht, als in Italien schon Mussolini herrschte und Franco und Hitler in Spanien und Deutschland ante portas standen.

Hervorgehoben werden muss der ganz einzigartige, energische und bildkräftige Stil Ortegas, der die Lektüre zu einer reinen Freude werden lässt. Auch seine Meinungsfreudigkeit macht den Text interessant, zusammen mit der großen intellektuellen Offenheit des Verfassers, der an der historischen Situation zwei Seiten bemerkt und deshalb „eine doppelte Deutung“ vorträgt, „eine positive und eine negative“. Nicht alles also scheint ihm entschieden. So gewinnt der Text eine schillernde, nervöse Seite, verstärkt noch durch rhetorische Fragen sowie die häufigen Interjektionen, die Helene Weyl in ihrer nun schon klassischen Übertragung fast immer mit „Nun wohl“ übersetzt hat. Auch gelegentliche Paradoxa lassen den Text funkeln.

Der Text ist davon geprägt, dass der Autor sich nicht recht zwischen Philosophie, Zeitkritik und politischem Kommentar zu entscheiden weiß. So ruft das lange Kapitel XIV, „Wer herrscht in der Welt?“, zur Überwindung des Nationalstaates und zu einer Einigung Europas auf – in manchen seiner Teile ist das Buch in einer geradezu platten Weise aktuell. Aber eben auch anregend, etwa wenn Ortega den Staat aus einer sehr mediterranen Perspektive auf die Stadt zurückführt, die sich um einen offenen Platz herum entwickelte, so dass auch für den Staat selbst Öffentlichkeit in jeder Form essentiell sein muss. Dass Staaten „Vereinigungen aus Menschen verschiedenen Blutes“ sind, werden wohl nicht alle seiner Zeitgenossen gern gelesen haben.

Zu dieser Ausgabe, die nun schon einige Jahre auf dem Markt ist, lässt sich einiges Kritische anmerken. Wo ist denn das lange Vorwort geblieben, das Ortega für die deutsche Ausgabe von 1934 geschrieben hat? Man muss zugeben, dass sich dort nichts über den Massenmenschen findet, aber Ortega schrieb seinen Essay „nicht für die Menschheit“, sondern für die Spanier, und so fand er einige einleitende Bemerkungen für Angehörige anderer Nationen wichtig. In seinem feurigen, mit Ironie und Sarkasmus durchsetzten Stil nimmt er zu der jüngsten Geschichte der deutschen Philosophie Stellung und spricht natürlich auch über Hermann Cohen und Paul Natorp, denn er lebte eine Weile in Marburg und kannte deshalb nicht allein die großen Alten, sondern auch die Jüngeren wie Nicolai Hartmann, mit dem er befreundet war, oder Max Scheler, dessen Genie zu verkünden er nicht müde wurde. Zu all dem nimmt Ortega in einer ganz unvergleichlichen Weise Stellung, schreibt aber leider kein einziges Wort über Martin Heidegger – das ist auch deshalb so schade, weil seine Vorlesungen in Madrid und später in Buenos Aires deutlich machen, dass es neben vielem Trennenden manches gab, das Ortega und Heidegger vereinte.

Das Nachwort von Michael Stürmer, das auch schon von 1989 stammt, kann das Vorwort Ortegas natürlich nicht ersetzen, sondern ist doch eher überflüssig, zumal es dem Leser einige nicht ganz unwesentliche Fakten verschweigt. So wird in dem kurzen biografischen Abriss das argentinische Exil Ortegas – er war natürlich vor Franco geflohen – mit keinem Wort erwähnt, sondern dort heißt es nur, dass er nach einem dritten Deutschlandaufenthalt „25 Jahre lang als Hochschullehrer und Publizist gewirkt und Spaniens geistige Elite geformt hat“. Warum also Stürmer, nicht Ortega selbst?

Titelbild

José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen.
Übersetzt aus dem Spanischen von Helene Weyl.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
224 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045775

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch