„Wahr ist, was wahr sein könnte“

Barbara Bronnen setzt mit „Meine Väter“ einen gewagten Schlusspunkt unter ihre genealogischen Recherchen

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Barbara Bronnen, die Schriftstellerin, schreibt als Barbara Bronnen, die Tochter und Enkelin, die sich aufmacht, die Lebensgeschichten ihrer „Väter“ – ihres Vaters und Großvaters – zu rekonstruieren. Ihr schriftstellerisches Talent kommt ihrem Buch ebenso zupass wie ihre berühmten Vorfahren, und doch ist das Thema im Grunde ein rein privates – um nicht erzählte Familiengeschichte geht es, um Schweigen und Verschwiegenheit, um Ausgrenzung und Verdrängung, um im Familienkontext Unaufgearbeitetes und um die mühsame Suche nach Antworten.

Diese Suche gilt vor allem Bronnens in der Familiengeschichte lange ausgespartem jüdischen Großvater Ferdinand Bronner, im „Dritten Reich“ zum Arier erklärt und mutmaßlicher Vater ihres Vaters Arnolt Bronnen. Dieser hatte sich seinerseits 1941 in einem Aufsehen erregenden Prozess für unehelich erklären lassen. Grundlage dafür war die bereits 1927 gemachte und 1930 als eidesstattliche Erklärung wiederholte Aussage der Mutter, in der Nacht vor ihrer Hochzeit von genau jenem Pfarrer missbraucht worden zu sein, der sie am folgenden Tag trauen sollte; auch die Hintergründe dieses mittelgroßen Skandals gilt es aufzudecken.

Barbara Bronnen hat eine gewagte Antwort gefunden auf ihre Fragen; auf 332 Seiten erzählt sie nun, wie sie zu dieser Erkenntnis kommt. Dabei bedient sich die Tochter und Enkelin des Handwerkszeuges der Schriftstellerin und zeichnet ihre Selbstgespräche, Einwände und Gedankenspiele aus der distanzierten Sie-Perspektive auf, während sie sonst in der Ich-Form erzählt, die konsequenterweise zwei Zeitebenen bedient: die Gegenwart, wenn es um Beschreibungen und Vorstellungen während der Recherchen geht, und die Vergangenheit, wenn das Recherchierte als rekonstruierte Lebensgeschichte wiedergegeben wird.

Die Geschichte des Großvaters beginnt mit der Reise der Enkelin zu dessen Geburtsort Auschwitz. Dort ist Dr. Ferdinand Bronner als jüdischer Junge Eliezer aufgewachsen, zu einer Zeit lange vor dem Naziterror und dem NS-Vernichtungslager. Auschwitz heute ohne KZ zu denken, ist für die Nachgeborenen ebenso schwierig wie in Dachau die Ludwig-Thoma-Stadt zu sehen; zu sehr sind diese (und andere) Ortsnamen inzwischen geprägt von der Geschichte des Nationalsozialismus, und zu abstrakt ist die Vorstellung, dass diese Orte bereits Jahrhunderte vor dem „Dritten Reich“ existiert haben.

Die so eingeleitete Geschichte des Großvaters liest sich über weite Strecken spannend und echt; Gerüche schweben aus den Zeilen, Geräusche klingen aus ihnen, und nur dem ganz Achtsamen fallen die häufigen ‚vielleicht‘ auf, die immer wieder verraten, dass hier die Vorstellungskraft zu Hilfe kommt, wenn die Überlieferung schweigt, und das tut sie oft. Apropos: Welche Überlieferung? Der Erzählung liegt ein 500 Seiten starkes Typoskript zugrunde – die Aufzeichnungen des Großvaters. Darin ist Vieles aus dem Leben des jüdischen Ariers nicht erwähnt, und vieles andere im Sinne des Verfassers verfälscht – es galt schließlich, einer Lebenslüge ein solides Fundament zu geben. Umso kniffliger gestaltet sich das Unterfangen, nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen, sondern auch jene Zeilen umzudeuten und zurückzuführen auf ihre Wurzeln, die diesen entfremdet worden sind.

Erzählt wird also, auf einem schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion, die Geschichte des Juden Eliezer, des späteren Ariers Dr. Ferdinand Bronner, und damit auch die des Arnold Bronner, der sich später (und ab 1945 ganz offiziell) Arnolt Bronnen nennen wird. Auch seine Sicht der Dinge steuert die Tochter zuweilen bei – seine Lebenserinnerungen sind erstmals 1954 unter dem Titel „Arnolt Bronnen gibt zu Protokoll“ erschienen.

Genau genommen hat das Buch zwei Themen: Einerseits erzählt es die Lebensgeschichte zweier Männer, die biologisch (höchstwahrscheinlich!) Vater und Sohn sind, die sich aber offenbar (oder scheinbar?) an ihren jüdischen Wurzeln unentrinnbar entzweien. Andererseits erzählt es die Geschichte der Barbara Bronnen als einem Kind, das im Schweigen aufgewachsen ist und das nun, als erwachsene, reife Frau, mühsam, aber doch mit einigem Erfolg, die zahlreichen Leerstellen ihrer Kindheit füllt.

Und noch eine interessante Geschichte erzählt das Buch, wenn man die Folie der erzählten und rekonstruierten Familiengeschichte(n) ausblendet: Es erzählt von der Entstehung des Deutschnationalen, einem verschwommenen Selbstverständnis, das seine stärksten Wurzeln im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts hat, das von immer mehr Menschen aufgenommen wird und sich in weiten Teilen der Gesellschaft verfestigt, das sich in Opposition stellt zu dem gesellschaftlich sehr präsenten Judentum, das langsam, aber stetig auch den Antisemitismus in sich aufnimmt und nährt, und das viele Menschen von Berlin bis Wien, Preußen wie Österreicher, vereint in einem diffusen Gefühl des Deutschseins.

Im Kontext dieser immer dichter werdenden, deutschnational geprägten Atmosphäre wird kurz vor der Jahrhundertwende aus dem jüdischen Studenten Eliezer der Protestant Ferdinand und aus diesem der Ehemann der Nichtjüdin Martha Schelle; Sohn Arnold wird acht Monate nach der lieb- und glanzlosen Hochzeit geboren – eine Zangengeburt, wie die Tochter prophetisch erwähnt. Auffallen werden später die zahlreichen Parallelen zwischen Ferdinand und Arnold: Die Ablehnung des Vaters und des Judentums und, damit verbunden, die Verschleierung der Herkunft bis hin zur Leugnung, einhergehend mit der Änderung des ursprünglichen Namens, das konsequent Eigenbrötlerische und Geheimniskrämerische und die unstrittige Begabung fürs Dramatische.

Dennoch (oder gerade deshalb) verstehen sich Vater und Sohn nicht, sind Antipoden. Ferdinand, der Schullehrer, kämpft um einen dauerhaften Erfolg als Schriftsteller, während Arnold bereits in seiner Grundschulzeit mit der immer schärferen Abgrenzung des Deutschtums vom Judentum konfrontiert wird; längst schon, und lange, bevor sie sich ihrer kurzen Hosen entledigen dürfen, geben die ‚deutschen‘ Lausbuben den Ton an – den ärmlich-kränkelnden Arnold schließen sie als ‚Judenbengel‘ aus. Arnold zieht sich zurück und schreibt – begeht ‚Vatermord‘ auf dem Papier. Jahre später wird der Sohn die Beziehungen des Vaters nutzen, um selbst als Dramatiker bekannt zu werden. Immerhin wird es Arnold alias Arnolt mit seiner Wut und seinem Mut zum Skandal zum meistgespielten Autor der Weimarer Republik bringen, um dann, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft (die trotz aller Bemühungen des Vaters eines Tages publik wird), in der Nazi-Zeit in Ungnade zu fallen.

Die Erzählung wird geraffter und sprunghafter, auch kurzatmiger – das Episch-Breite der vorangegangenen Seiten verliert den sprichwörtlichen Boden unter den Füßen, unsicher wird das Terrain, auf dem sich die Erzählung bewegt. Das mag auch an dem Erzählten selbst liegen, denn wir befinden uns im „Dritten Reich“, man kann niemandem trauen, und Berlin erlebt die allerletzten Auswüchse der ekstatischen Golden Twenties – Arnold Bronner mit seiner Geliebten Olga (und vor allem Olga) mittendrin. Doch dann wandelt sich der Nazi-Getreue und Antisemit zu – ja, zu was genau? Jedenfalls wendet er sich von den Nazis ab und einer Arierin (seiner zweiten Frau Hildegard, Barbara Bronnens Mutter) zu und die mutmaßliche Agentin Olga nimmt sich das Leben. Diese Episode ist ein Krimi für sich, eine Liebestragödie in den Jahren der längst in Gang gesetzten deutschen Tragödie. Wer wollte da noch Ruhe und Gelassenheit beim Erzählen erwarten?

Dann wandelt sich Arnold Bronner abermals – diesmal zu Schelle-Noetzel; in diesem Pseudonym vereint er die Namen seiner Mutter und Großmutter mütterlicherseits. Gleichzeitig werden die Informationen ungenau, oberflächlich zuweilen; stimmig sind sie immer seltener. Auch Ferdinand Bronner taucht zwischendurch auf im Durcheinander der Zeitgeschichte. Das Spurensuchen wird zu einem Zickzack-Kurs, man weiß nicht mehr genau, welche Fährte(n) man verfolgt, ob nur eine oder mehrere, oder eine Mischfährte, weil verschiedene Füße denselben Weg nahmen. Fast atemlos folgt auf einen Brief der Mutter deren eidesstattliche Erklärung über den angeblichen Missbrauch durch den Pfarrer. Dies wiederum nährt Arnolds Bestreben, als unehelicher Sohn des Pfarrers anerkannt zu werden, um sich damit ein für alle Mal seiner jüdischen Wurzeln zu entledigen. Und dann ist da noch die Prüfung des Reichssippenamtes, die auf wundersame Weise den assimilierten Juden Ferdinand zum Arier erklärt. Beide, Ferdinand und Arnold, überleben den Holocaust, aber keiner von ihnen hätte ihn wahrscheinlich überlebt, wenn…

Und plötzlich, so kommt es einem vor, drängt sich die alles erklärende Erkenntnis auf, Ferdinand und Arnold hätten all das – die Entzweiung, die Erklärungen, den Prozess – nur gespielt, nur erfunden, und ebenso von langer Hand vorbereitet wie die Mär von der missbrauchten Mutter. Ein starkes Stück. Aber auch ein gutes?

Trotz aller Dynamik im Erzählen und trotz vieler Daten, Fakten, Ideen und Vermutungen bleiben die zentralen Fragen ungeklärt. Die wichtigste: War Ferdinand Bronner nun Arnolt Bronnens leiblicher Vater oder nicht? Heutzutage wäre diese alles entscheidende Frage mithilfe eines Gentests schnell und zuverlässig zu klären. Wo ein solcher Test nicht (mehr) möglich ist, bleibt unendlich viel Raum für unzählige Fragen und Spekulationen.

Die zweitwichtigste Frage ist: Wie konnte es geschehen, dass der assimilierte Jude Dr. Ferdinand Bronner alias Franz Adamus trotz des fehlenden großen Ariernachweises im Dritten Reich offiziell zum Arier wird? Die Tatsache, dass er es wurde, wirft eine weitere Frage auf, nämlich die, weshalb es dann noch nötig war, Arnold Bronner für unehelich zu erklären?

Für die Historie bleibt Arnolt nun das uneheliche Kind eines evangelischen Pfarrers, und sein jüdischer Vater (?) Ferdinand ein Arier. Da die beiden – die Autorin nennt sie augenzwinkernd Schlemihls – dies alles aber nur inszeniert haben, um als Jude beziehungsweise Halbjude im Dritten Reich unbehelligt davonzukommen, gibt es neben der offiziellen Wahrheit nun auch noch eine andere (wahrere?) Wahrheit.

Die neue, überraschende und auch recht gewagte Version ist – nüchtern betrachtet – ebenso möglich und ebenso wenig beweisbar wie alle anderen Visionen, die sich aus dem umfangreichen Material (einschließlich aller möglichen Interpretationen der literarischen Werke von Vater und Sohn) konstruieren ließen. Spektakulär ist sie, das muss man zugeben, und wenn sie denn wahr ist, wäre sie in der Tat auch eine gewisse Rehabilitierung vor allem Arnolts. Wenn.

Ein etwas merkwürdiger Nachgeschmack bleibt allerdings, der nicht recht weiß, gegen wen er sich richten soll: gegen Vater und Sohn, ob des perfiden Betrugs (wenn er denn so stattgefunden hat)? Oder gegen die Tochter und Enkelin, die sich mit diesem Betrug als dem kleinsten Übel in einer langen Reihe von Übeln ausgesöhnt hat?

In jedem Fall aber ist diese Version ein Schlusspunkt unter Bronnens jahrelangen, vielleicht sogar jahrzehntelangen Recherchen; sie scheint mit dieser Lesart ihren wohlverdienten Frieden mit ihren Vätern gemacht zu haben. Dem Leser aber bleiben Zweifel – und viele, viele Fragen.

Titelbild

Barbara Bronnen: Meine Väter. Roman.
Insel Verlag, Berlin 2012.
332 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783458175346

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