Die Welt vom Leiden aus verstehen

Bernhard Greiners Tragödien-Buch führt sicher und einfallsreich durchs Dickicht tragischer Emotionen

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Unterschied zur Komödie hat, einem Apercu von Volker Klotz zufolge, die Tragödie am Ende mindestens eine Figur, die nicht mehr aufrecht die Bühne verlassen kann. Wenn der Tübinger Literaturwissenschaftler Bernhard Greiner, dessen „Komödien“-Buch 2006 in der zweiten Auflage erschienen ist, nun eine historische Darstellung der Tragödie als „Literaturgeschichte des aufrechten Gangs“ ankündigt, mag man sich zunächst wundern. Man muss einmal um die Ecke denken, um zu verstehen, wie Greiners Buch dem Titel auf kluge Weise gerecht wird. Der aufrechte Gang ist eine anthropologische Konstante, ein Ergebnis der biologischen Evolution, gehört mithin ins Feld der Determination, in dem menschliches Handeln stets vorherbestimmt scheint. Die Geschichte der Literatur ist jedoch geprägt von den Versuchen der Dramendichter, den tragischen Helden gegen alle Fremdbestimmungen als Herrn seines Handelns sozusagen wieder auf die Beine zu stellen – ein reichlich paradoxes Unterfangen. Zwischen den Polen ,Determination‘ und ,Freiheit‘ sind die Antworten auf die Kernfragen der Tragödie zu suchen: Was ist der tragische Fehler? Wer verschuldet ihn? Gelingt eine Einsicht? Wie wirkt das Leid auf den Betrachter? Kann man es überhaupt verstehen?

Im Brennpunkt des Tragödienverständnisses steht für Greiner weniger das tragische Ende, also Scheitern und Untergang des Helden – vielmehr entsteht das Tragische aus der Darstellung menschlichen Leidens, aus der aristotelischen Affektdramaturgie von Furcht und Schrecken. Ein Fragment aus dem Nachlass Nietzsches bringt diese Differenz auf den Punkt: „,Die Welt vom Leiden aus zu verstehen ist das Tragische in der Tragödie‘“. Die entscheidende Frage lautet demgemäß: Ist der Mensch „einem übermächtigen, ihn verderbenden Schicksal oder einer ihn ins Unglück stürzenden göttlichen Lenkung ausgesetzt und allenfalls fähig, Klage zu erheben oder sich dieses Schicksal willentlich anzueignen, oder wird ihm ein eigener, von ihm auch zu verantwortender Anteil an seinem Geschick zuerkannt?“ Mit anderen Worten: Die Tragödie ist für Greiner der (literarische und theatrale) Ort, an dem der Freiheitsspielraum des Menschen vor einem Publikum verhandelt wird; und mehr noch: Die Tragödie erweitere und befestige diesen Spielort, indem sie die Leser beziehungsweise Zuschauer zum Nachdenken über die Konflikte zwischen Freiheit und Verantwortung bringe. Die Tragödie ist also Freiheitsspiel im doppelten Sinne – Spiel der Freiheit und Spiel mit der Freiheit – bis hin zum Risiko, diesen Freiraum zu verspielen. Das mag die enorme Evidenz der Tragödie bis heute erklären, so vermutet Greiner mit guten Gründen.

Auch methodisch geht Bernhard Greiner zur Herkunft der Tragödie aus dem kultischen Spiel zurück und erklärt ihre Bedeutung aus der Dialektik zwischen der Präsenz (des Göttlichen) und der Repräsentanz (des leidenden Helden). Die Transformation von Präsenz in Repräsentation vollzieht Greiner am Opfergedanken in Euripides’ „Iphigenie in Aulis“ und an der alttestamentlichen Erzählung vom Sohnesopfer Isaaks (1. Buch Mose 15) nach: Das leidende Opfer wird in beiden Fällen zum Stellvertreter der Präsenz Gottes. Die Entstehung theatraler Tragik deutet Greiner mithilfe dieses Modells. Entscheidend in der Geschichte der Tragödie sei die Frage, wann und wie Präsenz in Repräsentanz, in die „Stellvertretung im Opfer“ umschlage. Und umgekehrt: Immer wenn die Gewalt von Präsenz artikuliert werde, finde eine Erneuerung des Theaters statt.

So vor allem in Johann Wolfgang Goethes „Faust“ und in  Heinrich von Kleists „Penthesilea“, zwei „Endpunkten der Geschichte der Gattung Tragödie“. Hier argumentiert Greiner für eine Tragik der starken Präsenz. Die feingliedrigen Erörterungen können hier nicht auch nur ansatzweise nachgezeichnet werden. Nur soviel zur Luzidität der These: Kleists Amazonenkönigin handle zwar gemäß der aristotelischen Dramentheorie, aber an einem „systematisch verkehrten Ort“, weil sie zuerst nicht ihre Affekte, sondern ihr Bewusstsein (von dem grausamen Mord an Achill) reinige, weil die Wiedererkennung (Anagnorisis) im Blick auf Unerkennbares (die äußerste Brutalität dieser ,Opfer‘-Handlung) stattfinde und weil dann erst Jammer und Reue einsetzen. Penthesilea ist somit – zugespitzt gesagt – eher eine tragische Figur, keine Tragödienfigur.

Damit ist der Epochenbruch bezeichnet, der sich mit der Tragödie des selbstdenkenden neuzeitlichen Subjekts schon im „Hamlet“ abzeichnet und bei Gotthold Ephraim Lessing als Selbstreflexion des Tragischen und  bei Friedrich Schiller als Tragisierung der Ästhetik vollzogen wird. Die Tragödie, die seit den griechischen Anfängen eine literarische Gattung war, wird im nicht mehr tragödienfähigen Raum der bürgerlichen Gesellschaft zur anthropologischen Konstante, das Tragische wird zur Seins- oder Geschichtsqualität erhoben. Wie aus der Poetik der Tragödie die „Philosophie des Tragischen“ (Peter Szondi) wird, das verfolgt Greiner in zwei großen historischen Schritten: in der Tragödie des bürgerlichen Subjekts von Gottsched bis „Faust II“, in der Tragödie jenseits dieses Subjekts, also in der Geschichte, von „Dantons Tod“ bis zu Bertolt Brechts umstrittenem Lehrstück über einen politischen Mord „Die Maßnahme“ und Heiner Müllers themenverwandten Stücken „Mauser“ und „Philoktet“.

Das neuzeitliche Subjekt der Tragödie zeichnet sich für Greiner gegenüber den tragischen Helden des antiken Dramas dadurch aus, dass es die widersprüchlichen Forderungen befragt, die auf es eindringen, ebenso wie die Instanz, von der sie ausgehen. So kommt es etwa in Lessings „Emilia Galotti“ zu einer Enttäuschung der aufklärerischen Hoffnung, dass sich das Schicksal gestalten lässt. Die Tragik der Dramenschlüsse wird doppelbödig, ebenso wie die Tragik der Figuren (wie in Schillers „Jungfrau von Orleans“), die „Philosophie des Tragischen“ führt aus der Literaturgeschichte der Tragödie eigentlich hinaus, aus den Tragödien werden „Abgesänge auf die Tragödie“. Doch gerade der Dramaturgie dieser Rückbewegung wohnt ihrerseits Tragik inne. In Friedrich Hebbels „Agnes Bernauer“ und Franz Grillparzers „Jüdin von Toledo“ – beide Trauerspiele wurden 1851 in Wien fertig gestellt – wird das vor allem am jeweiligen Dramenende illustriert: mit der Repräsentanz der Titelfigur, die am Ende für eine unbestimmte Sache geopfert wird.

Nachdem das Gattungsmodell der Tragödie im 19. Jahrhundert dermaßen entmächtigt ist, bleibt im 20. Jahrhundert für Tragödiendichter nicht viel mehr zu tun als sich von der tragisch obdachlosen Welt abzukehren und Zeichen einer neuen Präsenz zu setzen. Das Tragödienkonzept hat schon Georg Büchners „Woyzeck“ nicht mehr ausgefüllt, eine „verkehrte Tragödie“ über eine im Wortsinn armselige Figur, der kein Schicksal und kein autonomes Subjektbewusstsein zu sagen gibt, was sie leidet.

Hofmannsthal, Wedekind, Kaiser, Toller, Brecht und Heiner Müller sind die Tragödienautoren, die Greiners Studie fürs 20. Jahrhundert aufführt. Das ist konsequent im Sinne des methodischen Modells, aber wenig, fast zu wenig für eine ausführliche Literaturgeschichte wie diese. Wo ist Dürrenmatt, wo ist der Platz der Tragödie im Theater der Nachkriegszeit, den Wolf Gerhard Schmidt 2009 „Zwischen Antimoderne und Postmoderne“ so präzise beschrieben hat? Käme hier die Geschichte des „aufrechten Gangs“ ins Stolpern?

Trotz dieses historischen Überhangs zu Ungunsten des Gegenwartstheaters ist Bernhard Greiners Buch ein lohnendes Lehrbuch. Es führt in die Geschichte der Gattung ein. Es beherrscht die Register der Ästhetiktheorie (von Aristoteles über Hegel, Schelling, Nietzsche bis zu Steiner und Botho Strauß). Der Blick geht stets über Grenzen (aufs elisabethanische Theater, auf die französische Klassik). Die Inhalte der Stücke werden, wenn nötig, referiert, die historischen und biografischen Begleitumstände einbezogen. Das Transformationsmodell verliert sich gelegentlich auf den Wegen der Literaturgeschichte und kommt doch an den entscheidenden Stellen zur Geltung. Die Sätze sind jedoch manches Mal überkomplex; über den letzten Satz auf Seite 626 muss sich der Leser unnötig oft beugen, um ihn zu verstehen. Das tut dem Ganzen indes keinen Abbruch. Bernhard Greiner lehrt uns zu verstehen, wie aus der Geschichte der Tragödie die Gegenwart des Tragischen geworden ist und welche Rolle große Gefühle wie das „Pathetischerhabene“ dabei spielen.

Titelbild

Bernhard Greiner: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges ; Grundlagen und Interpretationen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012.
864 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783520340016

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