Kanonische Bibelrezeption

Über Karin Schöpflins Studie zur Aufnahme der Bibel in der Weltliteratur

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich glaube nicht, aber ich knie.“ Martin Walsers Äußerung in einem Deutschlandfunk-Interview am 15.7.2011 ist auch ein Bekenntnis zur Bibel. Die Schriften des Alten und Neuen Testaments erfreuen sich einer ungebrochenen (und überhaupt nicht mehr peinlichen) Aufnahme in der Gegenwartsliteratur. Diese bleibt leider in der Übersicht der Göttinger Theologin Karin Schöpflin außen vor. Denn ihre Beispielreihe literarischer Bibelrezeption reicht nur bis 1945.

Das hat allerdings einen Vorteil. Die große Ausstrahlung der biblischen Schriften kann auf einen weltliterarischen Kanon konzentriert werden, der auf erstaunliche Weise seine religiöse Musikalität unter Beweis stellt. Von Gellert und Klopstock über Goethe, Schiller, Novalis, Heine, Hebbel, Grillparzer, Fontane, Thomas Mann und Werfel bis zum frühen Benn reicht die Reihe, die durch den komparatistischen Blick auf Shakespeare, Petrarca, Dante, Melville, Tolstoi, Dostojewski und Wilde erweitert wird. Eine „literarische Kulturgeschichte“ der Bibel entsteht, aus der immer wieder die poetische Potenz biblischer Stoffe, Motive, Figuren und Geschichten herausleuchtet, vor allem in den Büchern Mose, den Psalmen und den Evangelien.

Karin Schöpflin rechnet nicht a priori mit theologisch versierten Lesern. Deshalb geht sie am altkirchlichen christlichen Kanon der biblischen Bücher entlang, zu denen auch die sogenannten deuterokanonischen Schriften wie das Buch Judith gehören; die „beispielhaft fromme Heldin“ wird in Friedrich Hebbels erstem Stück (1840) zur tragischen Figur, deren Gott eigentlich der von ihr enthauptete Holofernes ist. Jedes biblische Buch wird mit der Skizzierung seines Sitzes im Leben eingeführt und dann auf den Modus der literarischen Bibelreferenz bezogen, aktualisierend oder parodistisch, mit einer Kontrafaktur (wie Benn mit einem Gedicht über den Turmbau zu Babel) oder einer Transfiguration.

Als Übersicht über die Bibelrezeption in der Weltliteratur, als einführende literarische Rezeptionsgeschichte ist dies eine sehr lesenswerte Studie. Sie lädt dazu ein, die Theologen zu besseren Literaturwissenschaftlern zu machen und den weniger bibelkundigen Philologen einschlägiges Wissen über die biblischen Geschichten zu vermitteln.

Wundern dürften sich die Germanisten allenfalls über das nicht herren-, aber quellenlose Zitat: „Wenn ich in ein Gefängnis geworfen würde und nur ein Buch mitnehmen dürfte, wählte ich die Bibel“ (Johann Wolfgang Goethe).

Titelbild

Karin Schöpflin: Die Bibel in der Weltliteratur.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2011.
335 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783825234980

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