Kleist und das Dionysische

Gisela Dischner legt einen nicht unsympathischen, jedoch äußerst mängelbehafteten Essay über Heinrich von Kleist vor

Von Jonas ReinartzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Reinartz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laut Günter Blamberger, seines Zeichens Präsident der Kleist-Gesellschaft und Verfasser der luziden Dichter-Biografie im Fischer-Verlag, fanden im Verlaufe des Kleist-Jahres 2011 rund um den Globus insgesamt 2.500 Veranstaltungen zu Ehren des 200. Todesjahres statt. Dies ist eine beeindruckende Zahl, die belegt, was ohnehin offensichtlich sein dürfte: das Interesse an Kleist reißt nicht ab. Obwohl er eben „nicht zum Klassiker“ (Blamberger) taugt, scheint es die oft konstatierte Widerspenstigkeit zu sein, die den zu Lebzeiten kaum Beachteten so populär macht. Der entlarvende Blick des enttäuschten Aufklärungsoptimisten scheint uns in vielem näher zu sein als die Krisenbewältigungsversuche der Weimarer Klassik. Hierin liegt jedoch auch eine Gefahr. Mühelos lässt sich Kleist zum großen Außenseiter stilisieren, der seiner Zeit voraus war und etwa das „Dionysische“ erkannte, während seine Zeitgenossen sich noch von Winckelmann’scher „edle[r] Einfalt und stille[r] Größe“ blenden ließen. Dieses nicht gänzlich falsche, jedoch allzu simplifizierende Bild durchdringt auch Gisela Dischners Essay „‚der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele‘ Die Briefe Heinrich von Kleists als Teil seines Werks“. Ein solches Problem ist allerdings angesichts etlicher schwerwiegenderer Kritikpunkte vergleichsweise marginal.

Um es kurz zu machen: Dischner ist nicht daran gelegen, neue Erkenntnisse über Kleist zu gewinnen, sie liest ihn hingegen höchst subjektiv und bedient sich der gängigen Forschung allenfalls sporadisch. Durchweg erhält man das Gefühl, dass die Autorin, die von 1973 bis 2004 als Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hannover lehrte, mit Leidenschaft bei der Sache ist und ihren Vorlieben frönt. Die Nachteile liegen jedoch auf der Hand: Stringenz und Nachvollziehbarkeit sucht man über weite Strecken leider vergebens. Dass Kleists Briefe zu dessen Werk gehören, wird einfach gegen Blamberger behauptet, eine theoretische Erörterung bleibt aus, der Hinweis auf Bettina Brentano (spätere von Arnim) reicht jedoch bei weitem nicht aus. Ebenso kann die Behauptung, dass Kleist mit den „Berliner Abendblättern“ eine „Bildungsrevolution“ auslösen wollte, nicht im Geringsten bewiesen werden, es reiht sich Behauptung an Behauptung. Hinzu gesellt sich ein unzeitgemäßes Pathos, dass sich etwa im Raunen über den „orphischen Abstieg ins verborgene Innere“ oder die „Nacht der dunkelsten Seelenecken“ äußert.

Ohnehin gerät die Behauptung vom dionysischen Kleist nicht überzeugender, wenn sie immer wieder aufs Neue vorgebracht wird. Zudem mag Dischner sehr belesen sein, doch oftmals führen ihre Digressionen – die gelegentlich auch durchaus interessant sein können, etwa jene über Reiner Maria Rilkes „Malte“ –, vom eigentlichen Thema ab. Man fragt sich dann doch, wieso die Disney-Dokumentation „Die Wüste lebt“ erwähnt werden muss, um zeitraffendes Erzählen zu illustrieren. Es müsste eigentlich gar nicht erst erwähnt werden – natürlich muss wieder einmal „Über das Marionettentheater“ als Projektionsfläche kühner Behauptungen herhalten. In dem entsprechenden Kapitel schlägt sich dann der ohnehin latente Hang Dischners zu verschwurbelter Esoterik vollends Bahn. So ist von „zenhafter Konzentration“ die Rede, am Ende heißt es gar, Heidegger zweckentfremdend: „Der Gegenstand [des Denkens] wird zum Ding, das dingt. Wir bewegen uns darin, wie der Fisch im Wasser. Das wäre die Grazie des Denkens, in der ‚alles fließt‘“.

Zu diesen inhaltlichen Mängeln gesellen sich formale Nachlässigkeiten, die in dieser frappierenden Häufung den Leser erheblich irritieren. Da die Autorin ihren Text offenbar als langen Essay versteht (wie auch der Verlag), verzichtet sie völlig auf Fußnoten, was nicht weiter stört, da sie sich ohnehin an mit der Materie vertraute Leser wendet. Zitate weist sie im MLA-Stil – also direkt im Fließtext – nach, was noch akzeptabel ist, im Gegensatz zu manch anderem. Die Fehler bezüglich Titelnennungen sind nämlich nicht nur ärgerlich, sondern auch absolut vermeidbar. So nennt Dischner den „Aufsatz über das Marionettentheater“ (korrekt: „Über das Marionettentheater“), „Das Fräulein von Scudery“ (Hoffmann schreibt „Scuderi“, die ihm als Vorbild dienende Schriftstellerin hieß allerdings Madeleine de Scudéry), „Die Schaubühne als moralische Anstalt“ (es fehlt „betrachtet“), „Die Verlobung von Santo Domingo“ (richtig: „Die Verlobung in St. Domingo“), „Die Marquise von O.“ (es müsste „O…“ oder „O….“ heißen), „Prinz Friedrich von Hornburg“ („Homburg“ heißt es natürlich, wie Dischner an anderer Stelle auch schreibt). Ferner erwähnt sie Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen Malte Lauridds Brigge“, dieser heißt aber bekanntlich „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (bei einer vorherigen Erwähnung, mit richtiger Schreibweise des Namens, ist zudem das Erscheinungsjahr fälschlicherweise mit 1911 angegeben, an dieser Stelle aber korrekt mit 1910).

Der Umstand, dass Dischner den „Marionettentheater“-Aufsatz stets nach dem von Sembdner herausgebenen Nachdruck der „Berliner Abendblätter“ und Kleists Briefe nach „Kleist. Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis der Briefe“ zitiert, ist zwar unnötig umständlich, lässt sich aber noch als sympathische Eigensinnigkeit begreifen. Aus welchem Grund sie aber im Siglenverzeichnis die Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlages als DKV angibt, sie aber kein einziges Mal (!) zitiert und stattdessen die „Sämtlichen Werke“ (SW) benutzt, ist nicht ersichtlich. Im Text ist zudem die Sigle „LS“ zu finden, mit der üblicherweise „Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen“ abgekürzt wird, eine Auflösung der Abkürzung fehlt allerdings, ebenso wie die Aufführung des Bandes an sich.

Im eigentlichen Literaturverzeichnis fällt ferner auf, dass zwar meist gängige Ausgaben zitiert werden, etwa die von Kluckhohn und Samuel herausgegebene Novalis-Edition, Schillers ästhetische Briefe jedoch nach einer unbedeutenden Einzelausgabe von 1875. Daneben bezieht sich Dischner auch auf eine nicht existente Hoffmann-Edition. Eine fünfzehnbändige Gesamtausgabe aus dem Jahre 1924 von einem gewissen „Walther Heinrich“ hat es tatsächlich nie gegeben, wohl aber eine von Walther Harich. An sorgfältigen und leicht verfügbaren Schiller- und Hoffmann-Ausgaben besteht ja beleibe kein Mangel, daher ist diese Wahl nicht nachzuvollziehen. Dass im Verzeichnis grundsätzlich keine Seitenangaben angegeben werden, dann allerdings in zwei Fällen gegen die – ohnehin indiskutable – Regel verstoßen wird, erscheint reichlich inkonsequent. Ein Punkt nach jeder Angabe hätte zudem nicht geschadet und der Konvention entsprochen.

Die Autorin ist, wie bereits erwähnt, beleibe keine Anfängerin, sie hat unzählige Bücher verfasst und herausgegeben, so dass diese frappierenden Fehler nachhaltig verstören. Man könnte dies höchstens durch Nachlässigkeit erklären. Merkwürdig ist vor allem, dass sie vom Verlag völlig unbemerkt geblieben sind. Angesichts der genannten zahlreichen Mängel kann dieser Essay keinesfalls empfohlen werden. Kleist-Kenner werden sich eher ärgern, Einsteiger dagegen vor den Kopf gestoßen und vermutlich ein verfälschendes Bild von einem der faszinierendsten Schriftsteller deutscher Sprache sowie der dazugehörigen Forschung erhalten.

Nachtrag: Der Verlag hat mittlerweile die Fehler erkannt und wird bald eine überarbeitete 2. Auflage auf den Markt bringen. Dies ändert jedoch nichts an der zunächst ausgelieferten Ausgabe und den inhaltlichen Schwächen, daher wurde die bestehende Rezension nicht verändert. Interessierte sollten dennoch auf jeden Fall auf diese Version warten.

Titelbild

Gisela Dischner: "der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele". Die Briefe Heinrich von Kleists als Teil seines Werks.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2012.
135 Seiten, 17,50 EUR.
ISBN-13: 9783895289187

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch