Kluge Analysen und scharfsinniger Witz

Wulf Kirstens Gedichtband „fliehende ansicht“ lädt zum reflektierenden Innehalten an

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„wahrheit in kisten verpackt, / die nun als leergut herumliegen / und sich stapelweise offenbaren“ – solch überraschende Wendungen sind bezeichnend für Wulf Kirstens poetisches Werk. Genaue Beobachtungsgabe, eloquente Formulierungen und tiefsinniger Humor begründen zu Recht seinen Ruf als einen der wichtigsten Lyriker der Gegenwart. Liebhaber seiner scharfsinnigen Poesie werden es zu schätzen wissen, dass sich Kirsten nach der Veröffentlichung von Essays und Reden nun wieder der Lyrik zugewandt hat.

Wulf Kirsten, lange Jahre Lektor des Aufbau Verlags, beweist auch in diesem Gedichtband seine Klarheit des Blicks und sein hervorragendes Sprachgefühl. „fliehende ansicht“ versammelt 60 chronologisch geordnete Gedichte aus den Jahren 2005 bis 2011, die meisten Gedichte sind 2011 entstanden. Die Themen sind weit gespannt und reichen von Landschaftsbildern über Porträts von Dichterkollegen zu scharfsinnigen politischen Kommentaren: „irgendwas stimmt nicht / in dieser weltordnung, / die doch gemeinhin für die beste / aller möglichen gehalten wird“.

Historisch verortete Erinnerungen („so kam die befreiung als elend“), fliehende Ansichten aus dem Fenster eines durch die Landschaft donnernden Zugs und ungewöhnliche Denkfiguren wechseln einander ab, bereiten ein kurzweiliges Lesevergnügen. Direkt im Anschluss an eine gegenwartsverbundene politische Lamenz folgt zum Beispiel ein Nachruf auf Karauschen, demnächst „unbemerkt ausgestorbene“ zu kurz geratene Fische voller Gräten, die heute kaum noch einer kennt.

Der Ton seiner Gedichte ist nachdenklich, teils melancholisch, teils politisch engagiert. Lexikografische Archaismen wie „trübetimpelig“ spielen eine prominente Rolle und tragen zum außergewöhnlichen Charakter dieses Gedichtbands bei. Kirsten ist ein aufmerksamer Beobachter, der mit seinen klugen Analysen der von Massenmedien mit „wegwerfworten“ gefütterten Gegenwart Paroli bietet. Seine nie eilenden Gedichte bestechen durch Tiefe, Dichte und feinspürigen Witz – und obwohl der Autor mit leiser Ironie verkündet, dass es erst nachsehen muss, ob er „der deutschen sprache noch mächtig“ sei, hat er mit diesem Band den unumstößlichen Beweis geliefert.

Titelbild

Wulf Kirsten: fliehende ansicht. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
80 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783100921253

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