Im Netz der Quellen

Jane Newman zeigt, wo Walter Benjamin seine Ideen her hat

Von Andreas SolbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Solbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ (1928) ist seit Jahrzehnten nicht nur eine Inkunabel der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaften, sondern auch ein Zankapfel zwischen der Benjamin-Forschung und der zünftigen germanistischen Barockforschung. Benjamin-Verteidiger werfen der Germanistik seit langem vor, Benjamins epochemachendes Buch weder zureichend verstanden, noch interpretatorisch und theoretisch adäquat in ihre Forschung einbezogen zu haben. Ausgangspunkt dieser Fehde ist jedoch nicht Benjamin selbst, der sich mit diesem Text Mitte der 1920er-Jahre an der Frankfurter Universität habilitieren wollte und mit diesem Versuch gleich in mehreren Fakultäten scheiterte, sondern der Zorn der Benjamin-Forschung über dieses unerhörte Skandalon. Benjamin selbst hat sein Scheitern nicht zum Gegenstand einer ausführlichen Polemik gemacht, zum einen, weil er dem akademischen Leben insgesamt und der germanistischen Fachphilologie insbesondere nur Verachtung entgegenbringen konnte, und zum anderen, weil er sich über seine mangelhafte Vernetzung und plakative Vernachlässigung im Feld fachgermanistischer Gepflogenheiten sehr wohl im Klaren war. Der Kulturphilosoph fand sein ganzes Leben lang kein einziges gutes Wort für irgendeinen germanistischen Fachvertreter, und auch seine notorische Ablehnung akademischer Autoritäten in anderen Disziplinen unterstützt den Eindruck, dass der Autor hier aus biografischen Nöten heraus eine Laufbahnschrift verfasst hat, ohne die damit verbundenen Notwendigkeiten, so konventionell und abstoßend sie vielleicht erscheinen mögen, zu akzeptieren.

Der Streit, der sich zwischen Benjamin-Anhängern und Barockphilologen über eine gewisse Zeit hinweg entwickelte, ist mittlerweile abgeflaut, wenngleich auch nicht gänzlich in Vergessenheit geraten. Die Frage nach dem tatsächlichen Erkenntniswert von Benjamins Studie für die Erforschung des Dramas des 17. Jahrhunderts wird sich auch in Zukunft sicherlich nicht restlos beilegen lassen, schon deshalb nicht, weil Benjamins Text zu den sprachlich anspruchsvollsten und über weite Passagen dunkelsten Werken der Kulturphilosophie zählt.

Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Jane Newman, eine international bekannte Barockspezialistin und Benjamin-Forscherin, hat sich nun in einer sehr dankenswerten Weise der Auslegung und Kommentierung von Benjamins schwierigem Werk gewidmet. In ihrer umfangreichen Abhandlung verfolgt sie eine sich fast aufdrängende und unbegreiflicherweise bislang vernachlässigte Aufgabenstellung: Sie widmet sich ganz systematisch allen wesentlichen Quellen und Texten, vornehmlich der Sekundärliteratur, aber nicht ausschließlich, die Benjamin in seiner Arbeit zitiert und nutzt. Jeden der herangezogenen Autoren (es handelt sich dabei um Kunsthistoriker wie Heinrich Wölfflin und Wilhelm Worringer, Literaturwissenschaftler wie Fritz Strich, Konrad Burdach, Paul Stachel, Heinrich Cysarz, Oskar Walzel und viele andere) untersucht die Verfasserin individuell und stellt anhand der diesbezüglichen Forschung die intrikaten Verbindungen zwischen den Autoren und ihren Themen her. Dabei kommt sie gleich zu Beginn zu einem wichtigen Ergebnis: Benjamin organisiert sein Argument im Hinblick auf Diskurse nationaler Literaturgeschichtsschreibung, in die die Bemühungen der Germanistik um ein neues Barockverständnis am Beginn des 20. Jahrhunderts eingeschrieben sind.

An dieser wichtigen Erkenntnis sollten jedoch einige weiterführende Überlegungen angeschlossen werden, die sich so bei Newman nicht finden. Zweifellos hat sie Recht, wenn sie den Grundimpuls der frühen Barockforschung im Bestreben sieht, diese Literaturepoche als positiven Beitrag zur Entwicklung der deutschen Nationalliteratur zu erweisen. Nahezu die gesamte Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts bis zu dem ersten großen Germanistenpapst Wilhelm Scherer (Ausnahme Lemcke) hat für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts als angeblich durch die romanischen Literaturen komplett fremdgesteuerte und deshalb dekadente Kultur nur abschätzige Urteile übrig. Dieser Geringschätzung tritt die frühe Barockforschung jedoch nicht ausschließlich mit dem Argument der engen Verbindung von Deutschtum und Barock entgegen, sondern mit einer literaturtheoretischen Grundsatzüberlegung, die bis in die Gegenwart hinein das Mantra der Barockforschung geblieben ist und auch von Benjamin ratifiziert wurde: Die Barockliteratur kann und darf nicht mit den Maßstäben der Erlebnisdichtung des 18. Jahrhunderts bewertet werden, es ist unerlässlich, eine „Distanzhaltung“ (Günther Müller) zu ihr einzunehmen. Diese Distanz ist im Wesentlichen durch die Anwendung rhetorischer Strategien zu erklären, und die ganze frühe Barockforschung (Kayser, Müller, Viëtor, Alewin, Trunz und viele mehr) wird nicht müde, gerade diesen Punkt gegen die Versuche der geistesgeschichtlich orientierten Interpreten zur Geltung zu bringen. Deren oft weit ins Nationalistische hineinreichenden Argumentationen (auffällig sind hier die Benjamin’schen Gewährsmänner Hübscher und Cysarz) finden nur anfänglich in der formtypologischen Betrachtung ein Gegenstück, die sich dann schließlich mit Worringer gänzlich den Nationalstereotypen zuwendet.

Newman erläutert viele dieser Zusammenhänge höchst kenntnisreich und mit einem großen Aufwand an Gelehrsamkeit, die dem Kenner der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik hohen Respekt abnötigt. Allerdings leidet ihre Untersuchung an der Fixierung auf das nationale Argument, das unzweifelhaft einen wichtigen Bezugspunkt in Benjamins argumentativer Konstellation abgibt, aber eben nicht das einzige ist. Es ist nicht möglich, im Rahmen einer Besprechung an dieser Stelle den ganzen Reichtum der Erkenntnisse, die die Autorin zutage gefördert hat aufzuführen: Die Benjaminforschung wird an diesen Informationen nicht vorübergehen können. Ein weiteres Desiderat soll hier jedoch kurz angerissen werden. Der äußerst feingliedrige und reiche Schatz der Quellen, auf die sich Benjamin stützt, erscheint auch unter der Zentralkategorie des nationalen Diskurses in der rekonstruierenden Lektüre als außerordentlich heterogen und unzusammenhängend. Die Autorin hat keine narrative Zusammenfassung der Benjamin’schen Argumentationspfade versucht, sondern sie hat sich mehr oder minder der Kapitelfolge in Benjamins Buch verpflichtet, den dort gegebenen Quellenangaben sequenziell gewidmet. Dadurch entsteht aber nur unzureichend ein nachvollziehbares Argumentationsgefüge. Newman vermeidet es, Benjamins Vorgehen zu bewerten; dagegen finden sich in ihrem Text auffallend häufig Formulierungen wie „vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll“ oder „es ist verständlich, dass“ et cetera, die eine sehr punktuelle Argumentationslogik bei Benjamin rekonstruieren, ohne jedoch den großen Zusammenhang herzustellen. Dafür sind möglicherweise zwei Gründe ausschlaggebend gewesen. Zum einen verliert sich die Autorin manchmal in sehr weitgehende Filiationen ihres Untersuchungsgegenstandes, so dass der Weg zurück schwierig zu beschreiten ist, zum anderen aber erscheint es nach der Lektüre ihres Buches schwierig, eine solche große Argumentationslogik überhaupt herzustellen. Benjamin verfährt an vielen Stellen assoziativ, seine Belege sind oft vom Status her divergent (wissenschaftliche Arbeiten, übersetzte Texte der Primärliteratur und eine damit nicht zusammenhängende Novelle von Rochus von Liliencron), Begriffe und Kategorien werden grundsätzlich nicht definiert, bezwihungsweise gehorchen keinem fachspezifischen Gebrauch und vieles mehr. Derartige Bemerkungen aber würden an dem Bild Benjamins vieler seiner wortmächtigen Verehrer kratzen, und es fragt sich, ob die Autorin vielleicht etwas zu viel Pietät und Respekt vor der Ikone Benjamin walten lässt. Das schmälert aber beileibe nicht die zahlreichen und wichtigen Erkenntnisse, die in diesem Buch zusammengetragen sind und die eine neue Perspektive auf die Erforschung, nicht nur des Trauerspielbuches, sondern auch anderer Werke, werfen. Benjamin nach seinen Quellen und Inspirationen zu analysieren, muss auch bedeuten, ideologiekritisch und vorurteilslos seine Leistungen im zeitgenössischen Kontext und für die Gegenwart sichtbar zu machen. Dazu hat Jane Newman einen ersten, ganz besonders wichtigen Schritt getan und damit der Benjamin-Forschung, aber auch den Barockforschern, einen entscheidenden Hinweis gegeben.

Titelbild

Jane O. Newman: Benjamin's Library. Modernity, Nation, and the Baroque.
Cornell University Press, New York 2011.
237 Seiten, 26,60 EUR.
ISBN-13: 9780801476594

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