Schöne neue Weltfamilien

Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim überladen ihre Studie über die „Fernliebe“ mit weit mehr, als zwischen zwei Buchdeckel zu pressen ist

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der 1960er-Jahre, auf dem Höhepunkt der Studierendenbewegung, wurde von Medien und KommunardInnen unisono die sogenannte sexuelle Revolution ausgerufen, in deren Gefolge die seit jeher wohl mehr Liebesleid als Liebesfreud stiftenden Beziehungswirren nicht nur in den Kommunen und Wohngemeinschaften exzeptionell um sich griffen. Da war es fast schon ein wenig verspätet, als das Ehepaar Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim 1990 ihr Buch über „Das ganz normale Chaos der Liebe“ auf den Markt brachten. Zu einem anhaltenden Verkaufsschlager reichte es jedoch allemal.

Nun, gut zwanzig Jahre später, haben sie in ihrem neuen Werk „Fernliebe“ den Akzent verschoben – oder, wie sie selbst sagen, „den Horizont zum globalen Chaos der Liebe, mit allen Arten von Fernbeziehungen“, hin erweitert. Ihr Buch schlägt einen wahrlich „großen Bogen“, der nicht nur binationale Paare, sondern ebenso wohl „Mutterliebe aus der Ferne“, Kinderwunschtourismus, Leihmütter und einiges mehr umfasst. Nun stellt sich zwar die Frage, warum nur Mutterliebe, nicht aber Vater- oder doch zumindest Elternliebe thematisiert werden. Doch ist der Bogen auch so schon um einiges zu weit gespannt, als dass sein Inhalt zwischen zwei Buchdeckel gepresst einigermaßen erschöpfend behandelt werden könnte, zumal das Buch keine dreihundert Seiten umfasst und zudem mit zahlreichen Beispielen aus Biografien, Sachbüchern oder auch schon mal einem Roman angereichert ist.

Im „Zentrum“ der „neuen diagnostischen Theorie und empirischen Forschung“, mit der die AutorInnen „die globalisierten Landschaften von Intimität, Liebe, Elternschaft, Scheidung usw. erkunden“, steht der von ihnen eingeführte Neologismus „Weltfamilien“, der die „Grundlage, um die neue Familienwirklichkeit darzustellen“, bieten soll und „Familien“ bezeichnet, „die über (nationale, religiöse, kulturelle, ethnische usw.) Grenzen hinweg zusammenleben“ und zudem die „Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Menschen“, „die in unterschiedlichen Ländern bzw. Kontinenten leben oder aus unterschiedlichen Ländern bzw. Kontinenten kommen“, umfasst. Zwar betonen die AutorInnen, dass die unter dem „idealtypischen Begriff“ subsumierten Beziehungen „vielfältige Formen annehmen und aus den verschiedenen Motiven entstehen“ können, doch sei „allen Varianten von Weltfamilien“ zweierlei gemeinsam: Zum einen bilden sie den „Ort“, „an dem sich die Differenzen der globalisierten Welt im wörtlichen Sinn verkörpern“, und zum anderen sorgen sie für eine „Irritation“, indem sie nicht „mit unseren bisherigen Vorstellungen von dem, was den Charakter einer Familie ausmacht, was zur ‚Natur der Familie‘ gehört, immer und überall“, zusammenpassen.

Die AutorInnen grenzen Weltfamilien sowohl von den „multikulturellen Familien“, die in Südamerika und den USA „selbstverständlich“ seien, wie auch von „Normalfamilien“ ab, die vor allem in Europa verbreitet seien und deren Angehörige „dieselbe Sprache sprechen, denselben Pass besitzen, im selben Land zuhause sind und am selben Ort wohnen“. Nun besitzen allerdings auch in Europa die Angehörigen einer Familie keineswegs alle gemeinsam ein und denselben Pass, was ja auch problematisch würde, wenn beispielsweise die Tochter in einem anderen Land Urlaub machen möchte als der Vater. Gemeint ist aber wohl nur, dass sie die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen, was aber bei Weltfamilien vermutlich auch nicht anders sein muss. Die AutorInnen beschränken sich jedenfalls zunächst einmal auf die etwas vage Feststellung, anders als die multikulturellen Familien und die Normalfamilien bildeten Weltfamilien „neuartige Mischungen aus Nähe und Ferne, aus Gleichheit und Ungleichheit, die Länder und Kontinente überspannen“.

Innerhalb der Weltfamilien unterscheidet das AutorInnen-Duo „zwei Grundtypen“: Zum einen „Paare und Familien“, die zwar „getrennt über verschiedene Nationen oder Kontinente hinweg zusammenleben“, aber „derselben Herkunftskultur“ entstammen; zum anderen solche, deren Angehörige „aus unterschiedlichen Ländern bzw. Kontinenten kommen und deren Verständnis von Liebe und Familie wesentlich durch diese Herkunftskulturen geprägt ist“. Damit sei die „Vielfalt der Weltfamilien“ jedoch noch lange nicht erschöpfend abgedeckt, da sie darüber hinaus beispielsweise auch „Fernbeziehungen“ und „transnationale Adoption“ oder „Leihmutterschaft“ umfasse. Bislang hätten sich wissenschaftliche Disziplinen wie Anthropologie, Familien- und Migrationsforschung stets nur mit einem dieser „Ausschnitte der globalisierten Familienwirklichkeit“ befasst. Beck und Beck-Gernsheim wollen jedoch „deren Zusammenhang in den Blick nehmen“ und mit dem „übergreifenden Begriff ‚Weltfamilien‘“ erkunden, „was die verschiedenen Formen von Weltfamilien im Innersten zusammenhält“. Allerdings überzeugt die Lektüre zunehmend davon, dass in dem Begriff zusammengezwungen wird, was analytisch nicht zusammengehört wie etwa Skype-Beziehungen, Fernlieben, HeiratsmigrantInnen, die „Mutterliebe aus der Ferne“ von Arbeitsmigrantinnen, Leihmutterschaft, transnationale Adoptionen, Kinderwunschtourismus, globale Patchwork-Familien und – um einen von den AutorInnen vermutlich wenig goutierten Begriff zu wählen – verkaufte Bräute.

Doch versprechen Beck und Beck-Gernsheim so manches „Geheimnis“ zu „lüften“, etwa dasjenige der „Heiratsmigration“ von Frauen, die von FeministInnen fälschlicherweise „im Rahmen der weltweiten Ausbeutung von Frauen“ verortet und „als Fallbeispiel für Männergewalt“ angeführt werde. Den AutorInnen zufolge, ist jedoch gerade das Gegenteil der Fall. Etwa, wenn eine in Europa lebende türkischstämmige Frau von ihrer Familie im Rahmen einer arrangierten Ehe an einen aus der Türkei kommenden Mann verheiratet wird, dem sie ein Leben in Deutschland ermöglicht. Schenkt man dem AutorInnen-Duo Glauben, dann ist dies nur zum Vorteil dieser Frauen und sichert ihre Emanzipation. Denn, „selbst wenn ihre Heirat im Familienverband arrangiert wurde“, handele es sich bei ihnen keineswegs um „gefügige Opfer“, da sie nach sorgfältiger Abwägung aller „Vor- und Nachteile“ selbst „die Verbindung mit einem Mann, der aus dem Herkunftsland kam“, wollten. Dass letzteres allerdings noch lange nicht bedeutet, dass sie es nicht vorzögen, sich den Mann selbst auszusuchen, erörtern die Autorinnen nicht weiter, sondern fahren fort zu argumentieren, diese Frauen hegten die berechtigte Hoffnung, „damit einen Freiraum gegenüber traditionellen Erwartungen und Kontrollen zu gewinnen“. Zudem hofften sie berechtigterweise, „die Machtbalance in der Ehe damit zu ihren Gunsten zu verschieben“. Denn da sie sich im Unterschied zu dem Neuankömmling im „Aufnahmeland“ auskennen, besäßen sie einen „deutlichen Wissensvorsprung“ gegenüber dem ihnen angetrauten. Zudem – ein weiterer „nicht zu unterschätzender Vorteil“ – müssten sie den im Ursprungsland verbliebenen Schwiegereltern „nicht alltäglichen Gehorsam erweisen“ und sich nicht deren „sozialer Kontrolle fügen“.

Kurz: Diese Frauen „heiraten einen ‚Import-Bräutigam‘, um ihre errungene Freiheit abzusichern“. Dass diese Argumentation allenfalls dann Stich hält, wenn als alternativer Partner nur ein samt seiner Familie bereits in Deutschland lebender türkischstämmiger Mann in Betracht kommt, dem die Frauen hierzulande „zu verwöhnt und zu freizügig“ sind, da er der Geschlechterhierarchie beispielsweise Ostanatoliens nachtrauert, erörtern die AutorInnen nicht weiter. Ebenso wenig scheinen sie zu sehen, dass es noch lange nicht bedeutet, den Ehemann ausgesucht bekommen zu wollen, wenn eine türkischstämmige Frau lieber mit einem ‚Import-Bräutigam‘ verheiratet werden will als mit einem bereits in Deutschland lebenden türkischstämmigen Mann. Vielleicht würde sie sich ja überhaupt nicht für einen türkischstämmigen Mann entscheiden, wenn sie denn die Wahl hätten. – Oder, wer weiß, sie würden gar nicht heiraten wollen.

Doch profitieren Beck und Beck-Gernsheim zufolge nicht nur in Westeuropa lebende Türkinnen und Nordafrikanerinnen, denen von ihrer Familie ein ‚Import-Bräutigam‘ zugeteilt werden, von der Ehe, sondern auch asiatische Frauen, die zum Zwecke der Ehelichung von europäischen Männern gekauft werden. Denn letzteren sei allemal ein besseres Los beschieden als den in der südostasiatischen Heimat zurückgebliebenen Geschlechtsgenossinnen aus „ärmeren Regionen und Schichten“. So sei „Heiratsmigration“ und die damit einhergehende „Bindung an einen Mann“ für diese Frauen nicht nur „eine attraktive Alternative“ und „Chance“, sondern „oft der effektivste und sozial am meisten akzeptierte Weg, um Sozialstatus und ökonomische Sicherheit zu erreichen.“

Mehr noch: Es „privilegiert“ diese Frauen dem AutorInnen-Duo zufolge sogar gegenüber den Männern ihrer Heimatländer, die kaum die Möglichkeit haben, nach Europa zu heiraten. Dass das Geschlechterverhältnis in den westlichen Demokratien nicht davon unberührt bleiben kann, wenn Mann sich eine Frau per Internet bestellen kann, spielt in den Ausführungen der AutorInnen keine große Rolle; ebenso wenig, dass Geschlechterverhältnisse auch in Südostasien und Ostanatolien veränderbar sind.

So fragwürdig die Ausführungen von Beck und Beck-Gernsheim über arrangierte Ehen mit ‚Import-Bräutigamen“ und gekaufte Ehefrauen auch sein mögen, so zutreffend ist ihre Wendung von den „Schockwellen, die junge westliche Frauen erfassen“, wenn sie „in nicht-westliche Länder, wie zum Beispiel Indien“, heiraten. „Für sie, aufgewachsen mit den Optionen für eine eigenes Leben, soll mit einemmal gelten: Hierarchie statt Gleichheit, Unterordnung statt Selbständigkeit.“

Nicht ganz so überzeugend sind wiederum ihre Ausführungen zu den „moralischen und politischen Dilemmata“, die sie für europäische Feministinnen ausmachen, die „Hausarbeitsmigrantinnen“ anstellen. Einerseits forderten diese Feministinnen die „Gleichberechtigung aller Frauen“, andererseits nutzten sie als Arbeitgeberinnen „die Weltungleichheit der Frauen für die Zwecke ihrer privaten Emanzipation“. Wenn es nun aber, wie von Beck und Beck-Gernsheim behauptet, tatsächlich so ist, dass „nicht-westliche Frauen“, die als Arbeitsemigrantinnen nach Europa kommen, hier „mehr Autonomie“ genießen, als dies in ihren Heimatländern der Fall wäre – und es ist gewiss so –, wieso sollten sich dann westliche Feministinnen, die sie einstellen, in einem politischen oder moralischen Dilemma befinden?

Beck und Beck-Gernsheim haben ihrem neuen Buch zwar das schmucke Kleid der „Weltoffenheit“ angelegt, doch verbirgt sich unter ihm nur wenig emanzipatorisches Potential.

Titelbild

Elisabeth Beck-Gernsheim / Ulrich Beck: Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
280 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422328

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