Nabokovs Streichhölzer

Daniel Kehlmann über das Handwerk des Schreibens und die Kunst des Lesens

Von Dieter KaltwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Kaltwasser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Trifft Schillers Unterscheidung zwischen naiver und sentimentalischer Dichtung zu, dann ist das schriftstellerische Werk Daniel Kehlmanns ausdrücklich der reflektierten und daher sentimentalischen Dichtkunst zuzuordnen. Spätestens seit seinem Roman „Die Vermessung der Welt“, in über vierzig Sprachen übersetzt, ist er ein berühmter Autor und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Zum zweiten Male legt nun der Rowohlt Verlag eine Auswahl von Kehlmanns Essays, Reden und Vorlesungen vor. Daniel Kehlmann ist ein Leser und Interpret der besonderen Güte, beispielsweise der Werke von Samuel Beckett und Thomas Mann, Thomas Bernhard und Knut Hamsun, Heinrich von Kleist, William Shakespeare und Vladimir Nabokov.

In Kehlmanns Poetikvorlesungen „Diese sehr ernsten Scherze“ – in Anlehnung an Goethes Beschreibung des Faust II in seinem letzten Brief – gehalten im Jahre 2006 an der Universität Göttingen, in der er das Handwerk des Schreibens sich und den Hörern auf den Begriff zu bringen versucht, ist von einer frühen Kurzgeschichte Nabokovs die Rede, die sich in einem Zimmer und zwischen zwei Gesprächspartnern abspielt. Während des Dialogs orchestriert Nabokov das Ganze, mit kleinen, „psychologisch vielsagenden Gesten“. Einer der beiden Gesprächspartner bricht vor Nervosität ein kleines Streichholz in zwei Stücke und lässt sie in ein Weinglas fallen. Am Ende der Geschichte, nach vielen Wendungen und Gegenwendungen, schenken sich die beiden Wein ein und trinken. Der alte Nabokov sagt Jahrzehnte später, dass jeder das Streichholz im Weinglas vergessen habe, „etwas, das ich heute nicht mehr zulassen würde“. Dieser Satz enthält für Kehlmann eine der wesentlichen Erkenntnisse über das Prosaschreiben: Details sind überaus wichtig, der Autor müsse eine Szene sehen lernen, dann erst, in dem so geschauten, klaren Bild würden Detailfehler vermieden. Ein bilderloses Erzählen sei ohnehin gar nicht vorstellbar. Unabdingbar sei das Element des Notwendigen, welches gute Literatur ausmache, sowie ein Pakt mit dem Unbewussten, den ein Schriftsteller eingehen müsse.

In seiner Rede „Die Katastrophe des Glücks“ erzählt Daniel Kehlmann, dass seine ersten Romane und Erzählungen sich schlecht verkauften, und erst der Bestseller „Die Vermessung der Welt“ seinem Lebenslauf eine „anscheinende Absichtlichkeit“ – so Arthur Schopenhauers Formulierung – gegeben, und sich all das erfüllte, was er nicht einmal zu wünschen geglaubt habe. Doch man müsse das Glück mit der gleichen Ruhe hinzunehmen versuchen, mit dem man unter ungünstigeren Umständen mit dem Scheitern hätte leben müssen. Saul Bellow hat einst nach einem Bestsellererfolg seines Romans „Herzog“ gesagt: „Ich habe mein Gewissen befragt und mich gefragt, ob ich Falsches getan habe. Aber ich habe keine Sünde gefunden.“ Wer schreibt, will gelesen werden, und der geneigte Leser darf sich getrost Daniel Kehlmanns Literaturlob zu eigen machen.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Lob. Über Literatur.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
192 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783498035488

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