Ludwig Wittgensteins Leben „zeigt sich“

Michael Nedo legt ein „biographisches Album“ zum Autor des „Tractatus logico-philosophicus“ vor

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manfred Geier („Das Sprachspiel der Philosophen“, 1989) war im deutschen Sprachraum wohl einer der ersten, die auf die „mystische Intention“ im Werk Ludwig Wittgensteins aufmerksam machten. Genau zwanzig Jahre später konnte Peter Sloterdijk („Du mußt dein Leben ändern“, 2009) bereits von der „vielzitierte[n] Wittgensteinschen Mystik“ schreiben und im Autor des „Tractatus logico-philosophicus“ (vollendet 1918) und der „Philosophischen Untersuchungen“ (1945-1949) eine der „asketologisch“ inspirierten Figuren der (Wiener) sezessionistischen Moderne erkennen, die dem „neo-zisterziensisch[en]“ Programm von „Klarheit, Einfachheit und Funktionalität“ verpflichtet waren. In Wirklichkeit, so Sloterdijk, hatte Wittgenstein – jenseits seines sprachanalytischen Virtuosentums – die „Lebensform des Heiligen“ vorführen wollen. Daher sei die gemeine philosophiegeschichtliche Sicht, welche ihn nur als den Begründer der analytischen Philosophie kennt, Opfer einer „Täuschung“.

Nun hätte allerdings längst auffallen können – die unvoreingenommene Lektüre des „Tractatus“ führt unweigerlich zu dieser Erkenntnis –, dass Wittgensteins sprachpurifikatorische Prozeduren von der Absicht geleitet waren, die wesentlichen, der „Mystik“ allein vielleicht zugänglichen Seinsbestände: zuvörderst Ethik und Ästhetik, vor unverantwortlichem Geschwätz zu bewahren. Über das Unaussprechliche lässt sich nun einmal verantwortlich nicht sprechen; es ist da, aber nicht als Gegenstand des Geredes. Es ist allenfalls präsent im Modus des Sichzeigens.

Im vorliegenden, von Michael Nedo, Herausgeber der Wiener Wittgenstein-Ausgabe und Direktor des Wittgensteinarchivs in Cambridge, zusammengestellten „biographischen Album“ soll Wittgensteins Leben in vielen Bildern und Textzeugnissen „sich zeigen“. Dabei sind Begriff und Konzept des „Albums“ nicht willkürlich gewählt, sondern folgen einer Vorliebe Wittgensteins für dieses Format; bezeichnete er die „Philosophischen Untersuchungen“ doch selbst als „eigentlich nur ein Album“ und legte in den 1930er-Jahren ein Photoalbum als Bildergeschichte seines Lebens an.

Nedos Publikation bildet mehrere dieser Albumseiten ab, die zugleich bekunden, mit welcher Passion der Philosoph sich der Fotografie widmete. Auch als Bildhauer versuchte er sich und entwarf weiterhin zusammen mit dem befreundeten Architekten Paul Engelmann für seine Schwester Margarete Stonborough ein überaus beeindruckendes Wohnhaus in Wien.

Es gibt eine lange Reihe solcher mehr oder weniger bedeutenden Einzelheiten, welche die Biografie eines Mannes konturieren, die den Eindruck eines stets Ruhelosen erweckt, der stets auf der sehnsüchtigen Suche nach tiefer Ruhe war. Die acht Kapitelüberschriften indizieren die hauptsächlichen Lebensstationen und spiegeln auch topografisch das Mäandrische seiner Vita wider: Kindheit und Jugend, die Familie (1889-1906); Studienjahre: Berlin, Manchester, Cambridge (1906-1914); Soldat, Logisch-Philosophische Abhandlung (1914-1919); Volksschullehrer, Gärtner, Architekt (1919-1928); Cambridge: Research Fellow, Dozent (1929-1935); Rußland, Frankreich, Norwegen, Irland (1935-1938); Englischer Staatsbürger, Professor (1938-1947); Irland, Amerika, Norwegen, Cambridge (1947-1951).

Weil die Mutter Leopoldine („Poldy“) Wittgenstein katholisch war, wurde auch Ludwig so getauft. Er starb am 29. April 1951 in Cambridge, wo auch sein Grab zu finden ist. Seine letzen Worte: „Tell them I’ve had a wonderful life.“

Nimmt man auch die vielen Auszeichnungen des Ersten Weltkriegs hinzu (er hatte sich freiwillig gemeldet, denn er wollte „etwas Schweres auf sich nehmen, etwas anderes als nur geistige Arbeit“), so muss Wittgenstein ein tapferer Mann gewesen sein. Auch war er, aus reicher Familie stammend, mildtätig: 1914 spendete er hunderttausend Kronen (entspricht heute einer halben Million Euro) für bedürftige Künstler, wovon unter anderen Georg Trakl und Rainer Maria Rilke begünstigt wurden. Sein beträchtliches väterliches Erbe verteilte er 1919 an seine Geschwister. Doch als ein Verleger auf die Idee kam, seine finanzielle Beteiligung am Druck des „Tractatus“ zu fordern, wies er dieses Ansinnen entrüstet als „unmoralisch“ zurück.

Wir wissen nicht, ob und welchen Zuschuss der C. H. Beck-Verlag für das hier besprochene „biographische Album“ gefordert oder bekommen hat. Auf jeden Fall ist hier ein gutes, schönes, taktvolles und würdiges Buch zu akzeptablem Preis in die Welt gekommen, das einiges vom bekannten und vieles vom weniger bekannten Ludwig Wittgenstein zeigt. Eines ist der Band allerdings schuldig geblieben; nämlich die Erklärung von „Tractatus logico-philosophicus“ 6.241, wo Ludwig Wittgenstein den „Beweis des Satzes 2 x 2 = 4“ folgendermaßen erbringt:

Bisher konnte dem Rezensenten niemand sagen, ob der Mystiker Wittgenstein uns an dieser Stelle in die Tiefen mathematisch-logischer Abgründe führen wollte oder ob ihm (zugleich) der Schalk im Nacken saß.

Titelbild

Michael Nedo (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Ein biographisches Album.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
463 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783406639876

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