Die Auferstehung Jesu Christi als erzählerisches Problem

Sönke Finnern zeigt in „Narratologie und biblische Exegese“ die Instrumente der Bibelauslegung

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es handelt sich bei diesem Monumentalwerk um die – gekürzte notabene – Druckfassung einer Dissertation, die 2009/2010 an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereicht wurde. Dieses Buch ist eines von jenen, die dem fachexternen Rezensenten prima vista nicht allein wegen ihres Umfangs, sondern auch ihres hohen Anspruchs wegen Furcht und Zittern lehren. Wie dieser Kenntnisfülle, wie dieser Wissensflut begegnen?

Ungefähr 2.000 Titel umfasst das 80-seitige Literaturverzeichnis. Kalkulieren wir die Dauer der Erarbeitung der Dissertation auf fünf Jahre – wir ziehen aus gegebenem Anlass 260 arbeitsfreie Sonntage ab –, so kommen wir auf gerundete 1.570 Arbeitstage. Den Taschenrechner zu Hilfe genommen, ergibt sich, dass Sönke Finnern pro Arbeitstag etwa 1,3 Bücher, Aufsätze oder sonstige Publikationen rezipiert und daneben noch eine knappe DIN-A 4-Seite geschrieben hat; von all den Formalia, vor denen jedem graust, ganz zu schweigen. Also besteht Grund zur rückhaltlosen, aufrichtigen Bewunderung.

Die Komplexität seines Forschungsgegenstandes und seinen beeindruckend weit gefächerten Arbeitsplan erläutert der Autor wie folgt: „Wer wissenschaftlich mit Erzählungen in ihren unterschiedlichen Formen zu tun hat, braucht Analysekategorien, mit denen die Erzählungen betrachtet und beurteilt werden. Solche Kategorien sind in den letzten Jahrzehnten vor allem im literaturwissenschaftlichen Zweig der Anglistik, Germanistik, Romanistik und Slavistik entwickelt worden, aber auch in Theater-, Film- und Medienwissenschaften, in der Linguistik, Psychologie, Soziologie, Pädagogik, Philosophie und Exegese. Erzählungen gibt es in verschiedensten medialen Erscheinungsformen: als Text, als Film, als Theaterstück, als Hörspiel, als Bildergeschichte, als Alltagserzählung, als Computerspiel oder als gegenständliche Kunst [hier verweist der Autor auf die „Transmedialität der Narratologie“]; Erzählungen findet man in allen Zeiten und Kulturen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ein Grundgerüst aus Setting, Figuren und Ereignissen, eine Erzählperspektive und eine Rezeptionswirkung besitzen, die auf ähnliche Weise analysiert werden können. Narratologische Theorien dienen dazu, die Wahrnehmung einer Erzählung als Erzählung zu schärfen. Weil die Bibel zu einem großen Teil aus Erzähltexten besteht, ist es unverzichtbar, dass auch Exegetinnen und Exegeten mit narratologischen Kategorien vertraut sind.“

Der biblische Text, um den es Finnern im konkreten geht, ist das 28. Kapitel des Matthäusevangeliums. Es berichtet von der Auferstehung Jesu Christi und schließt mit dem Missionsauftrag (in der Übersetzung des Autors): „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf der Erde. Geht darum hin und macht zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes tauft und sie alles beachten lehrt, was ich euch befohlen habe; und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Zeit.“

Finnerns narratologisch ausgerichtete Bibelexegese favorisiert die im Zuge der „kognitiven Wende“ (cognitive turn) in den Wissenschaften gewonnenen Erkenntnisstrategien. Seit einigen Jahren lässt sich nämlich die narratologische Avantgarde auch innerhalb der Theologie von dem fundamentalen Apriori leiten, dass Texte nicht nur erdacht und geschrieben, sondern auch gelesen und – idealiter – verstanden werden. Das ahnte auch schon die ältere Hermeneutik; doch hatte Hans-Georg Gadamer, so Sönke Finnern, „zwar eine Mitwirkung des Lesers am Verstehen erkannt, aber diese Prozesse nicht genauer untersucht“. Heute, da man solche Dinge wie „statische ‚Frames‘ [Vorwissen des Lesers] und dynamische ‚Skripts‘ [Erwartungen des Lesers]“ kenne, seien bezüglich noch ausstehender Forschungsleistungen Fortschritte zu erwarten: „Die kognitive Wende könnte es möglich machen, die vielen strukturalistischen Einzelbeobachtungen der Narratologie zu einem Ganzen zusammenzufügen, indem sie narratologische Kategorien (z.B. Prolepsen/Analepsen) einzeln und in bestimmten Konstellationen bezogen auf ihre jeweilige Rezeptionswirkung neu untersucht. Diese Verknüpfung ist allerdings noch Zukunft.“

Ebenfalls begrüßt wird von Finnern die „kulturelle/historische Wende in der Narratologie“. Der Fortschritt hier bestehe in einem Rück-Schritt: „Die heutige Literaturtheorie ist wieder beim ‚Dass‘ der Berücksichtigung des historischen Kontexts angelangt.“ Allerdings scheinen die von diesem cultural turn angestoßenen exegetischen Innovationen bislang keinen erwähnenswerten Ertrag gebracht zu haben; denn: „Eine konkrete methodische Ausformulierung, wie der Kontext in die Interpretation einbezogen werden soll, steht allerdings noch aus.“ Vor lauter Ratlosigkeit wenden sich die von kognitiven, kulturellen und historischen „Wenden“ ergriffenen Jungen schließlich hilfesuchend an die alten Hasen: „Hier müsste das Erfahrungswissen der literaturwissenschaftlichen (und exegetischen) Praktiker, die schon immer historisch interpretiert haben, für die entsprechende Theorie- und Methodenbildung explizit gemacht werden.“ So also! Erst wirft man die Alten zum alten Eisen und, nachdem sich die exegetische Jeunesse dorée im Methodendschungel verrannt hat, will sie von den soeben noch Ausgemusterten, rüstigen Rentnern und Pensionären, aus der Patsche gezogen werden. An deren Stelle wüsst’ ich, was ich tät’.

Was ist nun Finnerns Ergebnis im Hinblick auf die Auferstehung des Heilands und dessen Missionsbefehl? Gegen Ende, in dem Abschnitt „Theologische Hauptgedanken“, ergibt sich, dass der Evangelist Matthäus der Auferstehung eine eschatologische Dimension verleiht und durch Zeichen „den Anbruch des Reiches Gottes“ signalisiert. Weiterhin versucht Matthäus in apologetischer Absicht „sehr stark, die Evidenz der Auferstehung deutlich zu machen“, wenngleich zu fragen bleibt, ob er „für den Glauben der Jünger mehr auf den Gekreuzigten als auf den Auferstandenen verweisen wollte“. Ferner ist der Engel, der den Stein vom Grab wälzt und den beiden Marien die Auferstehung verkündet, wichtig. Schließlich betont Finnern, dass mit dieser Deutung zwar einiges, aber längst nicht das Ultimum erreicht sei, wenn er das Fazit zieht: „Eine theologische Zusammenfassung ist sehr lohnenswert und könnte auch die Brücke zur Biblischen und Systematischen Theologie schlagen. Auch wenn die theoretische Reflexion darüber erst ansatzweise in exegetischen Methodenlehren vorhanden ist, existiert die Frage nach theologischen Hauptgedanken wenigstens in der Auslegungspraxis und soll daher an dieser Stelle zur historisch-kritischen Methode gerechnet werden. Die theologische Auswertung entspricht in der Narratologie der Beschreibung des Erzählerstandpunkts (und hier speziell den Überzeugungen des Erzählers, vgl. 2.6.5; 3.6.5). Wie bei der historisch-kritischen Methode steht eine methodische Ausformulierung hier ebenfalls noch ganz am Anfang.“

Ganz zum Schluss erwägt der Autor den Nutzen des Erforschten für die Homiletik und stellt fest, dass ein solcher existiert, obwohl der protestantischen Theologie auch auf diesem Feld die Hauptarbeit noch bevorstehe: „Predigten insgesamt könnten stärker unter dem Aspekt der intendierten und tatsächlichen Wirkung betrachtet werden. Und dass die Gottesdiensttheorie heutzutage stark auf die Theaterwissenschaft [sic!] zurückgreift, kommt nicht von ungefähr – schließlich gibt es auch hier ,Bühne‘ und Zuschauer, Akteure, Spannung, Emotionen und Bewegung im Raum. Ein Bezug auf die Narratologie kann daher auch die Liturgik in einen noch größeren Kontext stellen. Die möglichen Anwendungen einer interdisziplinären Narratologie sind damit wohl erst ansatzweise erfasst. Man darf auf weitere Entwicklungen in der Erzählanalyse und ihre Applikationen gespannt sein.“

Das ist ohne Frage Endzeiterwartung nach Matthäus (25,13): „Ihr wisset weder Tag noch Stunde.“

Titelbild

Sönke Finnern: Narratologie und biblische Exegese. Eine integrative Methode der Erzählanalyse und ihr Ertrag am Beispiel von Matthäus 28.
Mohr Siebeck, Tübingen 2010.
624 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783161503818

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