Philosophie in Sprechblasen

Die Graphic Novel „Nietzsche“ von Michel Onfray und Maximilen Le Roy erzählt vom Leben und Denken des Philosophen

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Speist sich die Faszination für Friedrich Nietzsches Werk vor allem aus dem Wissen über sein Leben oder ist es eher umgekehrt: Erklärt sich das Interesse für sein Leben aus dem Unerhörten seiner Schriften? Oft handelt es sich wohl um einen Teufelskreis: Man findet, einmal angesteckt, nicht mehr heraus aus der Beschäftigung mit Nietzsches Leben und Werk. Dieser Teufelskreis erhält zusätzliche Verstärkung durch die verschiedensten Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte, die sich des Faszinosums bedienen und es fruchtbar machen für Eigenes: Irvin D. Yaloms psychotherapeutischer Lebenshilferoman „Und Nietzsche weinte“, Martin Walsers Rechenschaft ablegender Essay „Nietzsche lebenslänglich“, popkulturelle Zitate (Kelly Clarksons „Stronger“) etc.

Und seit dem letzten Jahr auch eine Graphic Novel: die von dem französischen Philosophen Michel Onfray geschriebene und von dem französischen Zeichner Maximilien Le Roy illustrierte Comic-Biografie „Nietzsche“.

Nietzsches Leben bietet sich wie wenig zweite an, in einer Graphic Novel dargestellt und interpretiert zu werden, und ist doch wie wenig zweite völlig ungeeignet dazu. Man kann über Nietzsche sicherlich mehr mitteilen als das heideggersche „Er lebte, arbeitete und starb“ – sein Lebenslauf nimmt sich für einen Philosophen ja geradezu dramatisch aus: schwierige Familienverhältnisse, unerwiderte Liebe, ruheloses Wandern, letaler Wahnsinn. Und doch ist Nietzsche eben das: ein Philosoph, und des Philosophen Beruf ist das Denken und sein eigentliches Leben ist das seiner Gedanken. Was würde uns sein Leiden kümmern, wäre ihm nicht das Unerhörte seiner Gedanken entsprungen? Dem Paradox, das darzustellen, was sich der visuellen Darstellung verweigert und doch für den Philosophen/die Philosophin und seine/ihre Leserinnen und Leser das Wichtigste ist, Ideen eben, müssen sich Onfray und Le Roy aussetzen. Weder das bloß äußere Leben auf der Oberfläche nachzuerzählen noch nackte Theorieansätze von leblosen talking heads austauschen zu lassen, sondern einen neuen Weg dazwischen zu gehen, das ist die Kunst. Und gleich vorweg: Onfray und Le Roy sind diesen Grat mit Bravour gegangen.

Selbstverständlich und aus Gründen, die dem Genre eigen sind, interessiert sich Onfrays/Le Roys Graphic Novel „Nietzsche“ vor allem für das Leben und den Menschen. Es gelingt ihr jedoch das Kunststück, einen Menschen zu zeigen, der von seinen Ideen nicht zu trennen ist. Wir werden Zeuge buchstäblich der Fleischwerdung von Gedanken, die dem interessierten Laien bekannt sind: die ewige Wiederkehr des Gleichen, die Ablehnung christlicher Moral, die Analyse des Nihilismus usw. Ob es sich wirklich so zugetragen hat, interessiert den Leser und die Leserin dank den faszinierenden Bildern des Comics wenig. Man fühlt: Die Darstellung entspricht der Seele der dargestellten Momente und Gedanken. Nicht kongenial, aber doch empathisch.

„Nietzsche“ fängt dabei traditionell chronologisch an, als handele es sich um eine herkömmliche Biografie: Geburt, Elternhaus, Jugendjahre, Schopenhauer-Lektüre, Bordell-Besuch, Wagner und so weiter wie bekannt. Man freut sich schon nach ein paar Seiten auf das Turiner Pferd. Die Szenen fallen wie kurze Schlaglichter auf diese berühmten Episoden, viel ist notwendigerweise ausgelassen, und der Eindruck entsteht, man besuche mit der Zeitmaschine einen Menschen in unregelmäßigem Rhythmus und wohne seinen wichtigsten Momenten bei – den Momenten, die als Urszene gelten können für Werke wie „Also sprach Zarathustra“ oder „Ecce Homo“. Einzige Orientierungshilfe sind die wenigen Orts- und Zeitangaben. Einen geeigneten Einstieg in die Beschäftigung mit Nietzsches Leben und Werk bietet die Graphic Novel daher nicht – zu viel ist vorausgesetzt: Wer war Lou Andreas-Salomé? Malwida von Meysenburg? Peter Gast? Paul Rée? Ein Pferd in Turin? Wenn man es weiß, freut man sich über ein „Wiedersehen“, wenn nicht, kann man ihre Bedeutung für Nietzsche nur erahnen.

Auffallend dabei sind die vielen textlosen Stellen. Bereits die ersten sechs Seiten, auf denen die prägenden Erlebnisse der Kindheit in psychoanalytischer Manier gezeigt werden, verzichten völlig auf Wörter und Sätze. Konsequenterweise, denn die Eindrücke der Kindheit kommen ohne Sprache aus. Aber auch später werden wir Voyeure der dunklen Stunden des Philosophen – Nietzsche im Bett, Nietzsche im Wald, Nietzsche liest ein Buch, Nietzsche träumt. Alles ohne Text. Dass bei einem sprachmächtigen Philosophen wie Nietzsche die sprachlosen Stellen überwiegen, ist nicht nur dem Genre geschuldet, das schließlich nicht ganze philosophische Argumentationszusammenhänge in Sprechblasen zwingen will. Es ist auch der Zugang Onfrays zu Nietzsche als einem Denker, der aus dem Schweigen seiner Einsamkeit das Beste und Schlimmste zu machen gewusst hat. Und als großen Einsamen vor allem wollen uns die Autoren Nietzsche hier präsentieren, was ihnen wunderbar gelingt. Man erhält einen Eindruck von Nietzsches Schicksal, stilisiert, verfremdet, überhöht, den man sich von einer guten Dokumentation wünschen würde.

Das schaffen Le Roys Bilder auf eindrucksvolle Weise. Reduziert im Farbumfang, fast monochrom – vor allem da, wo die Figur im Vordergrund steht – oft verschwommen, wenig kontrastreich, im Sepiaton alter Fotografien, zuweilen expressionistisch, gelingt es ihnen, eine Vorstellung von diesem Leben im Betrachter zu wecken: Nietzsches Leben erhält Farbe, und zwar eine düstere. Le Roys Stil mag anderen ähnlich sein, zum Beispiel dem Nicolas Junckers, aber er ist durchaus genuin.

Besonders stark ist Le Roy in den Landschafts- und Stadtdarstellungen – wenn hier auch wenige historische Fehler unterlaufen (die Kölner Skyline bereits 1865 mit fertiggestelltem Dom? Das Leipziger Neue Rathaus vor 1899?). Sei’s drum, denn die Umgebung gestaltet Le Roy mehr und mehr als atmosphärische Seelenlandschaften. Seine Landschaften atmen eher die Luft echter Begegnung als die abgemalter Geschichtsbildbände. Wenn Nietzsche sich entnervt von der Unmöglichkeit, anderen von seinen Büchern zu erzählen, zum Spaziergang aufmacht, wortlos am Silsersee steht, ihm plötzlich der Adler des Zarathustra begegnet und vor dem Betrachter die Ebenen von Realität und Einbildung verschwimmen – das ist stark erzählt und gezeigt.

Die Übersetzung von Stephanie Singh ist gut und trifft das Deutsch des 19. Jahrhunderts, mit ein, zwei ungeschickten Übertragungen. Die Originaltexte stammen natürlich wieder von Nietzsche und sind zur besseren Unterscheidung in stilisierter Handschrift gehalten. Warum aber Nietzsche in Genua eine Carmen auf Deutsch singen hören muss, bleibt ein Rätsel.

Wo der Fokus auf dem Text liegt, ist zu merken, dass Onfray, der hedonistische Philosophiekritiker, sich zurückhält. Der nicht ins Deutsche mitübersetzte Untertitel „Se créer liberté“ drückt noch am ehesten aus, worin Onfray das Exzeptionelle in Nietzsches Leben sieht. Diese Freiheitssuche stellt der Comic auch dar, aber ihr und sein Ende halten – wie bekannt – wenig Ermutigendes bereit. Nietzsches Lebensgeschichte wird als Leidensgeschichte mit bekanntem Ausgang erzählt. Oft wirkt es wie aus einem Filmskript hervorgegangen. Nietzsches Aphorismen in Sprechblasen zu setzen, kann für einen Philosophen kein Leichtes sein. Daher unterlässt es Onfray auch größtenteils und lässt die Figuren eher Alltägliches und Überliefertes sprechen, wie es uns aus Briefen überliefert ist. An dieser Kulturgeschichte im Gewand einer Comicbiografie lebendigen Anteil haben zu können, macht die Lektüre von „Nietzsche“ zu einem intellektuellen und sinnlichen Vergnügen.

Titelbild

Michel Onfray / Maximilien Le Roy: Nietzsche.
Übersetzt aus dem Französischen übersetzt von Stephanie Singh.
Knaus Verlag, München 2011.
129 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813504309

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