Wie die Welt aus den Fugen geraten ist

Ketil Bjørnstad zeigt in seinem Panorama „Die Unsterblichen“ die Krise einer norwegischen Familie

Von Martina DrautzburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Drautzburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Brenner hat sich sein Leben mit Ende fünfzig ganz anders vorgestellt. Er wollte Unabhängigkeit, die Erfahrungen seines Lebens sollten ihm Sicherheit geben. Eine Zeit, um die Früchte seiner Arbeit genießen. Stattdessen zermürbt ihn seine Situation, in der er gleichzeitig Vater als auch Sohn ist. Ständig sorgt er sich um seine beiden Töchter, die mit Mitte zwanzig noch weit davon entfernt sind, eines Tages auf eigenen Beinen zu stehen. Aber noch viel mehr spannen ihn seine Eltern ein, die im Alter immer unselbständiger und hilfsbedürftiger werden und auch seine Schwiegereltern verlangen die Aufmerksamkeit und Pflege der Familie. Brenner ist keine herausragende Persönlichkeit, als Arzt muss er zwar beruflich Autorität zeigen, aber dabei fühlt er sich oft genug als Betrüger, weil er im Grunde Angst hat, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.

„Die Unsterblichen“ – der Titel von Ketil Bjørnstads Roman spielt auf eines der größten Probleme unserer westlichen Gesellschaft in der heutigen Zeit an. „Wir bewegen uns auf eine Altersphase zu, die dauert und dauert. In meiner Arztpraxis sehe ich das immer deutlicher. Die Alten leben und leben“. Bjørnstad hat seinen Protagonist klug ausgewählt, Brenner erlebt das Dilemma nicht nur privat, in seiner eigenen Familie. Als Arzt sieht er täglich, wie kleine und große Gebrechen des Alters mit mehr und mehr Medikamenten leidlich in Schach gehalten werden. Das Leben kann durch die moderne Medizin beinahe ins Unendliche verlängert werden, der Tod wird zu etwas, das möglichst lange aufgeschoben werden muss.

Das Aufschieben wird allgemein immer mehr zum Lebensprinzip und Thomas Brenner ist keine Ausnahme. Stück für Stück häufen sich immer mehr Probleme und Konflikte an, nach deren Lösung gar nicht erst gesucht wird, weil die Konfrontation damit um jeden Preis vermieden werden muss. „Die Familie ist eine Zeitbombe,“ denkt Brenner. Misserfolge gibt es nicht, denn über Probleme wird gar nicht erst gesprochen. Beide Töchter versuchen sich in Künsten, für die sie kein Talent haben, die eine als Tänzerin, die andere als Silberschmiedin. Die Eltern ermutigen sie dazu, weil sie sich nicht trauen, echte Kritik zu üben, in der Angst die Kinder zu verletzen und zu entmutigen. Kein Wunder, dass sie es beide nicht schaffen, im Leben Fuß zu fassen und weiter auf die Unterstützung der Eltern angewiesen sind. Die jüngere Tochter Annika ist auch noch extrem übergewichtig, Brenner weiß zwar als Arzt um die Gefahren ihrer Situation, ist aber gar nicht erst in der Lage, das Problem anzusprechen.

Bjørnstads Roman kreist um den Mikrokosmos des Holmenkollhügels, eine der besseren Gegenden Oslos, und steht doch exemplarisch für die gesamte westliche Welt. Für eine Welt, in der die Menschen nach Erfolg und Wohlstand streben, es ist ein einziges Rennen um die besten Plätze in der Gesellschaft. Mit einen scharfen Blick zeigt er eines der Symptome unserer Zeit den Jugend- und Gesundheitswahn, der die Auseinandersetzung mit Alter und Tod verdrängt. Wer sein Leben lang gewohnt war, nach oben zu streben, hat verlernt, auf die Signale des Körpers zu hören und vermag nicht einzusehen, welche Grenzen das Alter setzt. „War Altwerden wirklich damit verbunden, daß man niemals aufgeben wollte? Warum galt es in dieser Gesellschaft als negativ, die Segel zu streichen, zu resignieren, einfach einzusehen, daß etwas zu Ende war?“

Das Streben vor allem nach finanziellem Erfolg führt nicht zum erhofften Glück. Bjørnstad zeigt, wie das Platzen der Finanzblase tiefe Auswirkungen auf die Psyche hat. „Die ganze Gesellschaft war außer Kontrolle. Das Untergangsgefühl war mit der Finanzkrise im Jahr zuvor gekommen.“ Brenner muss zusehen, wie die beiden Häuser, das seiner Eltern und das seiner Schwiegereltern, in dem er mit seiner Frau Elisabeth und mit Tochter Annika wohnt, immer mehr verfallen, und an Wert verlieren. Die Eltern sind noch lange nicht tot, und schon verstrickt er sich mit seinen Geschwistern und Erbstreitigkeiten. Bjørnstad gelingt es darüber hinaus – und das ist eine der großen Stärken des Buches – die Bedrohung ganz unterschwellig in verschiedensten Facetten zu zeigen. Die Krise zeigt sich auch in den Erfahrungen, die Brenner in seiner Arztpraxis macht. Banker und Manager, die an Bluthochdruck, Prostataproblemen und anderen Krankheiten leiden, für die sie eigentlich noch viel zu jung sind. Die Gesellschaft duldet keine Schwächen macht die Menschen gerade dadurch krank.

Einzig in Brenners Frau Elisabeth entwirft Bjørnstad einen Gegenpol zur allgemeinen Raserei der modernen Welt. Sie hat die buddhistische Lebensweise für sich entdeckt, die ja „keine richtige Religion“ ist und damit in einer säkularen Gesellschaft als „Lifestyle“ akzeptiert ist. Sie hat die Achtsamkeit und das bewusste Leben für sich entdeckt und ihre berufliche Karriere aufgegeben, um für ihre Eltern da sein zu können. Vielleicht liegt darin ein Schlüssel zur Lösung, Thomas Brenner und seine Töchter sind jedenfalls beeindruckt von der Ruhe und Zufriedenheit, die Elisabeth Brenner ausstrahlt. Allerdings schaffen sie es nicht, die gleichen Konsequenzen für ihr eigenes Leben zu ziehen und sich auf das zu besinnen, was wichtig ist. Sie alle bleiben Suchende, die ihren Platz im Leben nicht zu finden vermögen und von einer existenziellen Angst ergriffen sind, die ihr Handeln lähmt.

Ketil Bjørnstad erzählt in „Die Unsterblichen“ eine alltägliche Geschichte, wie es sie überall in Europa geben kann. Er ist ein typischer „Pantoffelheld“, der mit den kleinen Dramen des Lebens zu kämpfen hat. Konzentriert auf die Figur Brenners und seine Familie spricht Bjørnstad grundlegende Probleme unserer Gesellschaft an. Durch die Tabuisierung des Todes wird die Angst vor dem Sterben ins Unermessliche gesteigert. Die Möglichkeiten der Medizin sind dabei nahezu unbegrenzt, wenn es darum geht, den Körper am Leben zu erhalten. Dabei wird in Kauf genommen, dass es sich hierbei oft nur um lindernde Maßnahmen handelt. Bjørnstad zeigt dabei wenig schonungslos, was es heißt, die Kontrolle sowohl über die Körperfunktionen als auch über den Geist zu verlieren. Ganz zu schweigen von dem Gesundheits- und Pflegesystem, dass schlicht und einfach überlastet ist.

Trotzdem ist der Roman nie moralisierend, allein die Beschreibung der Leiden des Alterns reicht als indirekte Aufforderung zum Nachdenken über unseren Umgang mit dem Alter. Dabei schafft es Bjørnstad, eine ungeheure Spannung aufzubauen, die vor allem aus dem ständigen Aufschieben resultiert. Als Arzt erkennt Brenner sein anhaltendes Herzflimmern als lebensbedrohlich – und doch nimmt er lieber Medikamente, von deren gefährlichen Nebenwirkungen er weiß, als das Problem anzusprechen und seine Familie zu beunruhigen. Mit jeder Seite wird deutlicher, dass dieses ständige Ausweichen nur zu einer Katastrophe führen kann.

Titelbild

Ketil Bjørnstad: Die Unsterblichen. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel Verlag, Berlin 2011.
303 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783458175117

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