Weltbeschreibungen

Die Art, wie der Baedeker die Welt sah, hat unsere Art die Welt zu sehen geprägt. Susanne Müller wagt den Blick auf ein Phänomen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Reise ohne einen Reiseführer anzutreten, muss als naiv oder wagemutig gelten. Zu groß ist doch das Risiko des Reisenden, im fremden Land völlig orientierungslos herumzuirren, ohne Kenntnis dessen, was als sehenswürdig anzusehen ist, ohne Wissen um landesübliche Umgangsformen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen, ohne Einblick in eine fremde Kultur und ihre offenbaren Geheimnisse. Einfach hinfahren und schauen, das geht wohl in der Tat nicht, und dabei sind die Unwägbarkeiten der fremden Sprache nicht einmal mitgedacht. Frühe Reiseberichte wissen davon viele Seiten lang zu berichten. Das hat Konsequenzen, vor allem pragmatischer Natur: Schon der Berlin- oder Münchenbesucher – metropolenerfahren oder nicht – wird sich mit einem der handlichen Büchlein bewaffnen, die ihm wenigstens das Wichtigste davon vermitteln, was er zur Orientierung und zu effizienten Reise braucht.

Dazu gehören empfehlenswerte Restaurants und Hotels ebenso wie die angesagten Quartiere oder die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Die Frage, ob man besser den Bus, die U-Bahn oder das Taxi zu Fortbewegung wählt, gehört ebenso zum Nachschlagbaren wie die Frage nach dem leidlichen Trinkgeld oder angesagten Clubs. Orientierung ist ein hohes Gut in der Fremde, und sie zu gewährleisten eine große Leistung, nicht nur, weil Orientierung generell zum Problem in der Moderne wird.

Freilich erschöpfen sich Reiseführer nicht allein mit pragmatischen Hinweisen, sie sind auch mediale Zurichtungen und bilden mit ihrem Gegenstand ein mediales Ensemble, wie Susanne Müller in ihrer Studie zu den Baedeker-Reiseberichten, ihrer Entstehung, ihrem Konzept, ihrer Entwicklung und ihren Implikationen nicht müde wird zu betonen. Die Reise wird durch den Reiseführer bestimmt, der Blick auf das jeweilige Reiseziel (wie auch auf den Weg dorthin) wird von dem, was der Reiseführer zu bieten hat, grundlegend gesteuert. Der Reisende selbst verhält sich rezeptiv und in seinen Aktivitäten genauso wie es ihm der Reiseführer vorführt. Die Welt, wie sie der Baedeker sieht, ist dabei eine Welt der Moderne, sie ist zugleich vermittelt und die Wahrnehmung gesteuert.

Reise vor der Moderne ist etwas anderes als in der Moderne. Die Pilgerfahrt, vom Kreuzzug nicht immer zu unterscheiden, dient der religiösen Heimführung des Pilgers, die Grand Tour der Bildung des jungen Adeligen und Großbürgers, die Entdeckungsreise ins Unbekannte ist vor allem Eroberungsfahrt. Alles andere an Bewegung ist weniger Reise, denn Mühsal und Notwendigkeit oder Ausdruck einer sozialen Mobilität und Unbehaustheit, die man der Vormoderne sonst kaum zutraut, wo sie doch angeblich von Immobilität und Stetik geprägt ist. Der Reisebericht ist denn auch etwas völlig anderes als der Reiseführer, zumindest in der Form, wie ihn der Koblenzer Buchhändler Karl Baedeker in den 1830er-Jahren entwickelte. Ein kleines rotes Büchlein nach Vorbild der englischen Red Books von Murray, das Wert auf geprüfte und belastbare Informationen und die Pragmatik für den Reisenden legt: gute Reiserouten, die besten Hotels und Restaurants, alles, was als sehenswürdig gilt, Trinkgelder und außerdem ein kleiner historischer Überblick.

Schnelle Orientierung, die Fokussierung auf das Wesentliche und einfache Handhabung sind die Merkmale der Baedeker, die ihn zu jenem Markenruhm geführt haben, der das Ziel jeder Markenstrategie ist und für die ein Produkt oder ein Unternehmen früh da gewesen sein muss. Tempo, Nivea oder eben Baedeker, die als Produktnamen verwendet werden, unabhängig von ihrem tatsächlichen Produzenten, gibt es nicht viele.

Begonnen hat das alles – wie sich das für ein deutsches Kulturunternehmen gehört – selbstverständlich mit einer Rheinreise, genauer gesagt mit einem Rheinreiseführer, den Karl Baedeker aus dem Konkurs des Roehling-Verlags übernahm, zum ersten Baedeker umarbeitete und 1835 neu erscheinen ließ. Erst mit der 1839 erscheinenden dritten Auflage der Rheinreise aber wird daraus ein „Handbuch für Schnellreisende“, berichtet Susanne Müller in ihrer Baedeker-Studie.

Damit beginnt der Erfolg Baedekers, der so groß sein würde, dass der Name den Untergang des Verlags im 20. Jahrhundert überleben würde. Was mit der Rheinreise begann, wurde auf Städte wie London und Paris übertragen, während Berlin anfänglich nur gemeinsam mit Brandenburg Baedeker-würdig war. Das Programm wurde bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr und mehr ausgebaut, bis hin zu den ersten Autoreiseführern seit Ende der 1930er-Jahre. Dass die Eroberung Norwegens anhand eines Baedekers geplant worden sein soll, zeigt immerhin das große Vertrauen in die sachliche Korrektheit der Baedeker. Dass es einen Baedeker „Generalgouvernement“ gab, von den Verirrungen, von denen auch ein solch seriöser Verlag im „Dritten Reich“ nicht frei war.

Der Erfolg des Baedekers geht so weit, dass er zum festen Bestandteil des Reisesujets auch in der Malerei wird. Menschen auf Reisen – müssen notwendig mit Reiseführer, und am besten mit diesem kleinen roten abgebildet werden. Alternative Reiseführer setzen sich am liebsten vom großen Vor- oder Gegenbild ab: Ein Titel wie „Was nicht im Baedeker steht“ garantiert immerhin eine völlig andere Form der Reise als das, was das bürgerliche Publikum des frühen 20. Jahrhunderts damit verband. Klaus und Erika Mann haben sogar einen solchen Reiseführer geschrieben (über die französische und italienische Mittelmeerküste), der als Frühform heutiger Reisebücher gelten kann.

Mit der Entwicklung des Baedeker verbunden ist eine tief greifende Veränderung des Reisens überhaupt: Es dient mehr und mehr der Erholung, die Reise ist dem Interesse für ein anderes Land und der Neugierde des Reisenden geschuldet, der nicht mehr Monate oder Jahre auf Reisen verlebt, sondern nur noch wenige Wochen. Reisende beginnen Programme abzuarbeiten, einen bestehenden Reisekanon zu verinnerlichen, der ihnen Kenntnis und Sensation vermittelt.

Dass dies zu Einschränkungen in der Wahrnehmung führt, liegt darin begründet, dass die Begrenzung von Zeit, die für eine Reisevorbereitung aufgewendet werden kann, die Fokussierung auf das Wesentliche nach sich zieht – in der heutigen Spannung von Kultur und Unterhaltung befinden sich auch schon die Reisenden im späten 19. Jahrhundert.

Reisebücher wie der Baedeker sind deshalb als „mediale Behälter“ zu verstehen, sie sind Abstraktionen des Raumes, entfalten einen eigenen Raum des Imaginären und inszenierte Topografien – um nur einige der Thesen Müllers vorzustellen. Das, was im Baedeker steht, für die Realität zu halten, ist entweder Ausdruck großer Naivität oder äußerster Pragmatik.

Allerdings bleibt zu fragen, ob es dazu eine Alternative gibt? Da Menschen symbolische Maschinen sind, wohl nicht. Allerdings bedeutet das auch, dass sie sich an die jeweiligen eben auch medialen Bedingungen anpassen. Die Spannung zwischen Repräsentanz und Referenz hängt eben nicht nur daran, wie sich die Referenz entwickelt, sondern eben auch daran, welche Medien die jeweilige Repräsentanz ausbilden: Buch, Zeitschrift, Illustrierte, Stadtplan, Malerei oder Fotografie, ja auch Fotobuch ebenso wie Reiseführer, Reiseerzählung oder Reisebericht. Text, Bild, Fotografie, Plan bilden zueinander je spezifische Zugriffsformen auf Realität, wie sie mit dem, was sie zu beschreiben und zu erfassen vorhaben, eine eigentümliche Verbindung eingehen – das Reisemittel nicht ausgenommen. Insofern hat Müller ihre Studie wohl zurecht als „Medienkulturgeschichte“ ausgewiesen. Der Mensch auf Reisen ist ein Mensch, der sich nicht nur auf Reisen befindet, sondern sich in einem besonderen Vehikel bewegt und spezifische Reiseziele hat. London und Paris natürlich, die romantischen Rheinlande eben, per Schiff oder Zug. Erst spät kommen Orte wie Berlin dazu – Köln aber bleibt lange nicht satisfaktionsfähig. Und einen Autoreiseführer gibt Baedeker erst 1938 heraus. Die Autobahnen des „Führers“ haben auch, was das angeht, Wirkung.

Beeindruckend also das, was Müller hier vorführt und aufarbeitet – freilich ein bisschen dünn bisweilen die Basis, auf der sie aufsitzt: Zur Fotogeschichte der Weimarer Republik stützt sie sich weitgehend auf ein Heft aus der Publikums-Reihe Geo Epoche – eigentlich als Forschungsbeitrag nicht akzeptabel. So stark die Studie in ihrem wesentlichen Kompetenzbereich, der Forschung zur Reise und zum Reisebericht wie -führer auch auftritt, so mager wird das Material, wenn es in die Nachbargebiete geht, was allerdings vielleicht die hin und wieder durchschlagenden Klischees erklärt. Das Bild vom Reiseführer, das Müller zeichnet, wird dadurch aber nur unwesentlich geschädigt. Es bleibt immer noch imposant. Nur die Gesamtschau auf das Große Ganze leidet ein bisschen.

Titelbild

Susanne Müller: Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830 - 1945.
Campus Verlag, Frankfurt, M. 2012.
354 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783593396156

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