Gegen das Selbstläufertum des Immergleichen

Theo Honnef wirft in seinem Buch „Nackte Kaiser“ einen unvoreingenommenen Blick auf einige Klassiker der neueren deutschen Literatur

Von Nicolas PethesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolas Pethes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer einen Blick auf gegenwärtige Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe wirft, darf sich mit Recht fragen, ob die vergangenen 50 Jahre überhaupt stattgefunden haben. Was einst in den reformfreudigen 1970er-Jahren als ‚Gegenwartsliteratur‘ in den Kanon des Deutschunterrichts aufgenommen wurde, scheint nichts an Aktualität verloren zu haben: Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass, Heinrich Böll und Jurek Becker – bis auf den unverwüstlichen Grass alle längst verstorben – sind noch in der Literaturdidaktik des 21. Jahrhunderts die Untoten eines Bildungssystems, das die Sicherheit des Schon-immer-Gelesenen nur ungern gegen das Experiment eines Textes austauscht, der neu wäre, tatsächlich aktuell, und noch nicht filetiert durch die zahllosen Lektürehilfen und Lehrerhandreichungen, mittels derer vormalige Wissenschaftsverlage im Kielwasser sogenannter Bildungsreformen ihre Bilanzen aufbessern.

Auch wenn die Autorennamen nicht mehr dieselben sein mögen, so ist die Situation an den Universitäten nicht unbedingt besser: Das eiserne Gesetz des Kanon, dasjenige zu empfehlen, was immer schon gelesen wurde, greift auch hier. Und eben weil dieser Mechanismus oft vollständig unabhängig vom Kriterium der ästhetischen Qualität der Leselisten funktioniert, ist das Buch des kalifornischen Germanisten Theo Honnef ein so bemerkenswerter Einspruch gegen das Selbstläufertum des Immergleichen: Unter dem vielsagenden Titel „Nackte Kaiser“ unterzieht Honnef acht Klassiker der zum Teil längst vergangenen Gegenwartsliteratur einer kritischen Revision, die nicht nach der Karriere der betreffenden Bücher im deutschsprachigen Bildungssystem fragt, sondern schlicht, ob sie hinsichtlich Handlungsmotivation, Charakterzeichnung, sprachlicher Gestaltung und vermittelter Botschaft zu überzeugen wissen.

Ob dieser „Blick auf einige Klassiker der neueren deutschen Literatur“ so „unvoreingenommen“ ist, wie der Untertitel des Bandes behauptet, sei dahingestellt. Tatsächlich wählt Honnef natürlich solche Bücher, die für die angesprochenen Probleme repräsentativ sind. Dieses Verfahren der Selektion ist aber, unter umgekehrten Vorzeichen, auch dasjenige des Kanons selbst, und insofern mag man „Nackte Kaiser“ als eine Art Negativkanon deutschsprachiger Erzählliteratur von „Biedermann und die Brandstifter“ über „Schlafes Bruder“, „Der Vorleser“ und „Medea: Stimmen“ bis zu „Im Krebsgang“ lesen. Das Resultat ist so erfrischend wie frappierend: Gerade Texten aus den 1950er- und    -60er-Jahren, von denen man immer dachte, man könne sie nur nicht mehr ertragen, weil sie in der Schule bis zum Überdruss durchgekaut wurden, werden hier handfeste Konzeptionsfehler nachgewiesen – Claires tödlicher Rachewunsch in Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, Bölls plakative Medienkritik in „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, der zuckersüße Kitsch der musiktheoretischen Absurditäten in Robert Schneiders „Schlafes Bruder“ sowie schließlich die zumindest höchst unsensiblen Revisionen des Schuldkomplexes deutscher Geschichte in Grass’ später Novelle wie in Bernhard Schlincks Erfolgsroman „Der Vorleser“. Gerade weil letzterer geradezu einem creative writing-Kurses für Schulliteratur entsprungen und mittlerweile auch entsprechend etabliert zu sein scheint, ist es so wichtig, dass Honnef die in der akademischen Diskussion des Buchs durchaus präsente Kritik auch hinsichtlich der Verwendung des Romans im Unterricht einklagt. Und im Fall von „Im Krebsgang“ ist seine Analyse von unmittelbarem Wert für fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen, die Grass’ Novelle meist freundlich aufgenommen, dabei aber nur selten auf den eigentümlich schicksalhaften Duktus der Erzählung sowie die ungleiche Gewichtung der drei historischen Protagonisten Gustloff, Frankfurter und Marinesko hingewiesen haben.

„Nackte Kaiser“ selbst allerdings beansprucht nicht, einen Beitrag zu diesen Fachdiskussionen zu leisten und führt sie folglich auch nur als Chor gängiger Meinungen an, ohne konkrete Forschungspositionen zu zitieren. Dennoch ist das Buch unbedingt allen ans Herz zu legen, die Lehrpläne für das Fach Deutsch konzipieren oder, schlimmer noch, sich mit den bestehenden Plänen auseinandersetzen müssen. Denn selbst wenn der Kanon der „Klassiker der neueren deutschen Literatur“ für die nächsten Jahre festgezurrt sein mag, so kann die angemahnte kritische Perspektive auf die entsprechenden Werke fruchtbarere Anregungen für ihre Analyse im Deutschunterricht bieten als das Nachbeten jahrzehntealter Topoi der Deutschdidaktik, wie sie in den gängigen Lektürehilfen immer wieder aufs Neue aufbereitet werden.

Aber nicht nur in dieser Hinsicht ist „Nackte Kaiser“ keineswegs nur ein destruktives Buch. Die wenigen guten Haare, die der Verfasser auf den Köpfen von Max Frisch, Bernhard Schlinck oder Christa Wolf belässt, sind vor dem Hintergrund seiner sonstigen Kritik umso höher zu werten. Und nicht zuletzt bleibt ein beträchtlicher Zweig kanonischer Texte des vergangenen halben Jahrhunderts – „Andorra“, „Katz und Maus“, „Jakob, der Lügner“, „Kassandra“ oder auch „Das Parfum“ – ungeschoren. Und das vielleicht nicht nur, weil der Autor exemplarisch arbeitet, sondern weil diese Werke tatsächlich über eine stabilere ästhetische Komposition verfügen als die hier besprochenen. Anderes, allen voran das unsägliche „Sansibar oder der letzte Grund“ von Alfred Andersch oder das aufgrund seiner vermeintlichen Unbeschwertheit überschätzte „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann, sucht man vergeblich auf dem Index – dass sich die Negativliste aber unschwer verlängern ließe, spricht eher für als gegen exemplarische Auswahl.

Dennoch wüsste man am Ende natürlich gerne, was Theo Honnef Deutschlehrern und Germanistikdozentinnen für den Unterricht empfehlen würde. Können Klassiker der Popliteratur wie Christian Krachts „Faserland“ bestehen oder verweist die auffällig textile Titelmetapher dieses Buchs auch wieder auf die faktische Nacktheit der dahinter verborgenen kaiserlichen Botschaft? Wie steht es mit Wolfgang Herrndorfs „tschick“, das so offensichtlich beansprucht, das Erbe von „The Catcher in the Rye, Die neuen Leiden des jungen W.“ oder „Crazy“ anzutreten? In welchen Fällen tatsächlich neue Kleider und wo doch nur wieder schüttere Stellen vorliegen, bleibt weiter zu diskutieren. Dem Fingerzeig des kleinen Knaben am Straßenrand der kaiserlichen Prozession schuldet das kritisches Lese- und Lehrbewusstsein aber jetzt schon Dank.

Titelbild

Theo Honnef: Nackte Kaiser. Ein unvoreingenommener Blick auf einige Klassiker der neueren deutschen Literatur.
Books on Demand, Norderstedt 2011.
188 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783842304468

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