Das ist ja der reinste Musil

Karl Heinz Bohrers „Granatsplitter“ erzählen von einer Jugend in Deutschland

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Hansers Prospektbeilage „Stöbern für Bücherwürmer“ (Herbst 2012) firmiert Karl Heinz Bohrers „Erzählung einer Jugend“ noch unter „Sachbuch“. „Es ist Krieg“, heißt es dort, und weiter: „Aber was genau ist ein Krieg? Warum und von wem wird er geführt?“

Der Ton macht die Musik – und auch die Gattung. Es können wenig Zweifel daran aufkommen, dass wir es hier mit einem literarischen Genre zu tun haben, und nicht mit einem Sachtext. Gleichwohl geht es diesem Text darum, genau einzufangen, was ein siebenjähriger Junge (der im Laufe des Buches älter wird) 1939, bei Kriegsausbruch, gedacht und empfunden haben mag: „Dies ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend. Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren. Die Neugier des Lesers wird auch nicht durch eine biographische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze befriedigt, sondern ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und der Gedanken einer vergangenen Zeit.“

Soweit das „Postscriptum“, dem man sich anschließen mag oder auch nicht. Denn die Neugier des Lesers ist vielgestaltig, und sie lässt sich nur bedingt kanalisieren. Die „Phantasie einer Jugend“ beginnt jedenfalls mit dem Krieg, doch nicht – man mag dies die „Gnade der späten Geburt“ nennen – mit einer Traumatisierung. Es ist vielmehr eine Faszination, die diese Erzählung untergründig hebt und trägt: „War es schon Herbst neununddreißig oder erst Sommer vierzig? Die Jungen hatten plötzlich ein neues Spiel erfunden. Das konnte es vorher nicht gegeben haben. Buchstäblich über Nacht hatte es nämlich diese in allen Farben funkelnden Steine vom Himmel geregnet. Das geschah jedes Mal, wenn die feindlichen Flugzeuge dagewesen waren und der Donner über der großen Stadt lag.“

Schon der Erzähleingang versucht, sich auf das Wissen von damals zu stellen, das ein Nicht-Wissen war. Man hatte noch keine Vorstellung von dem, was der Krieg bringen würde, denn es „sollte noch Jahre dauern, bis die Jungen die Wörter wirklich verstehen würden, wenn Tausende Bomben fielen, der Donner von ihren Explosionen herrührte und Phosphor in die Keller fließen würde.“ Wir haben also einerseits einen Erzähler, der mit seinem heutigen Bewusstsein auftreten muss, eine (seine?) Geschichte von damals aufzuzeichnen, und der zugleich bemüht sein muss, die Welt von damals nicht durch sein heutiges Wissen zu kontaminieren. Das Spiel mit den Granatsplittern, die da vom Himmel regnen, ist also noch vollkommen der Naivität von Kindern, von Heranwachsenden geschuldet, die das Faszinosum des Krieges aus der allgemeinen Stimmungslage erfahren, und aus den neuen Wörtern, die da „plötzlich“ im Umlauf sind und denen die Wirklichkeit erst noch folgen muss: „Dass Bomben fallen könnten, daran dachte keiner. Man hatte das Wort seit etwa einem Jahr von den Erwachsenen gehört. Eine Bombe würde auf das Haus fallen, und vielleicht würde man sterben. Tod, Krieg – solche Worte. Aber es waren unverständliche Worte geblieben.“

In vielen Fällen denkt der Leser darüber nach, wie etwas geschrieben ist, nicht wer etwas geschrieben hat. Das ist hier anders, ebenso, wie es anders war, als Umberto Eco seinen ersten Roman „Il nome della rosa“ 1980 vorlegte. Es war damals spannend zu erfahren, wie jemand, den man als Literaturwissenschaftler kannte und schätzte, sich als Erzähler präsentieren würde. Der Fall Bohrer liegt anders als der Fall Umberto Eco, der Fall Claudio Magris, liegt anders als die Beispiele von Gert Hofmann, Gerhard Köpf, Hanns-Josef Ortheil oder Hans-Ulrich Treichel, die auf ihre Weise immer schon zweigleisig gefahren sind. Denn im Falle Bohrers ist eine Fortsetzung dieser (autobiographischen?) Jugenderzählung kaum vorstellbar, jedenfalls nicht in diesem narrativen Gestus tastender Naivität. Was sich Bohrer jedoch bewahrt hat, was ihn mit seinem Protagonisten verbindet (mit seinem früheren Ich?), ist die unstillbare Neugier, die Weltoffenheit, die Bereitschaft, sich irritieren (und kränken) zu lassen, die eigene Haut zu Markte zu tragen und, wenn nötig, große stilistische Mittel einzusetzen.

Offenheit und Geschlossenheit

Bohrers Erzählung „Granatsplitter“ jedoch überzeugt weniger durch ihre großen als durch ihre diskreten sprachlichen Mittel. Die Tonlage ähnelt einer fast autistischen Weltwahrnehmung, einer Wahrnehmung, die zwar weit offen steht für Sinnesdaten aller Provenienz, die aber mimosenhaft geschlossen werden muss, wenn und sobald es an die Verarbeitung dieser Daten geht – also eigentlich immer. Die innere Verarbeitung des Erfahrenen, Erlebten, Gehörten ist ein ungeheurer Prozess, der den „Jungen“ (so wird er von der Erzählerstimme genannt, die gleichwohl auf die innere Stimme des Protagonisten fokalisiert) gleichsam abschließt von den Freunden, den Eltern, den Lehrern und Erwachsenen, die den Wirklichkeitseinbruch des Krieges gesprächsweise verarbeiten.

Somit ist der anfangs siebenjährige, am Ende fast erwachsene Junge doppelt konnotiert. Einerseits gleicht er den Kindern der Straße, die den Granatsplittern nachjagen und sie sogleich zu Tauschgeschäften nutzen. Als lebenstüchtiger Held einer Huckleberry-Finn-Geschichte quasi, ist er voller Neugierde auf die Welt und ihre Offenbarungen. Auf der anderen Seite gleicht er dem jungen Törleß in Musils Erzählung (1906), der sich, unerreichbar für andere, auf den Status des Beobachters zurückzieht, der manchmal sofort, manchmal verzögert und womöglich nur im Nachhinein versteht, was um ihn herum vorgeht. Dieses Verstehen auf Raten, dieses allmähliche Begreifen der Zeitumstände, in die man hineingeworfen ist, gleicht einer Schutzfunktion. Es lässt sich wohl sagen, dass dieser Junge in einer behüteten Welt aufwächst, obwohl Krieg herrscht, obwohl Deutschland im permanenten Ausnahmezustand regiert wird, obwohl die Eltern sich scheiden lassen, obwohl das Internatsleben seine Schrecknisse für die Zöglinge bereithält. Nachstehend schildert er die Schulinszenierung von Aischylos’ „Agamemnon“: „Als der Junge die Aufführung dann am Ende seines ersten Schuljahres sah, war das Unheimliche noch stärker geworden. Es verschwand nicht mehr aus dem Alltag, es war immer da. Es gab ältere Schüler, die die Jüngeren, denen sie als Zimmerführer vorstanden, nächtens brutal quälten oder quälen ließen. Er selbst entging diesen nächtlichen Folterungen, aber er beobachtete sie und nahm sie wahr als etwas Grauenhaftes, vollkommen fern von dem, was er bisher erlebt hatte.“

Reinster Musil. Dass dieser Junge so unbeschadet aus dieser Welt hervorgeht, ist glücklichen Umständen geschuldet, aber auch seiner Fähigkeit, all jenen etwas abzugewinnen, die seinen Lebensweg kreuzen. Wer das im einzelnen ist, wird nicht oder nur ganz selten gesagt, denn „Granatsplitter“ ist aus mehreren Gründen nicht als Autobiographie angelegt. Ein Grund mag sein, dass Bohrer auf jede Form von Namedropping bewusst verzichten wollte, dass es ihm nicht darum ging aufzuzeigen, welchen bedeutenden Persönlichkeiten er begegnete. Es lässt sich jedoch recherchieren, dass die Lehrerin und Witwe eines Widerständlers, die „den Jungen“ im Internat Birklehof unterrichtete, Charlotte von der Schulenburg nachgebildet ist, und dass der Band ein verstecktes Porträt des Religionsphilosophen Georg Picht (er war von 1946 bis 1955 Schulleiter in Hinterzarten) enthält.

Zu den prägenden Begegnungen und Erlebnissen gehören die englische Familie, die der Junge in den letzten Augusttagen des Jahres 1939 auf einer Nordseeinsel kennenlernt, die Erinnerung an Harry, der mit der Hand in Richtung Westen wies („There is England“), und der plötzlich weggeblieben war: „Der Krieg stünde bevor.“ Da ist das alte Haus des Großvaters, wo „alles unheimlich“ war, „vor allem der Mann selbst“. Dieser Großvater hatte einen Bekannten, den Hannes oder Schinderhannes, der „alleine in einer Bretterhütte in seinem Schrebergarten“ lebte, in einem düsteren Loch, man „kam sich vor wie im Märchen“: „Ja, sie waren hier in einem Vorort der dunkelroten Hölle.“

Im Frühsommer 1944 wird der Junge von einem Klassenkameraden gefragt, ob er wisse, was ein KZ sei, und er erfährt von hauptsächlich „Juden“, die dort getötet würden, und zwar von der „SS“. Er spricht seinen Vater darauf an, und der erklärt ihm, dass der Staat „von Verbrechern geführt“ werde und dass das Volk „nicht viel besser“ sei. Aus dem geliebten Griechischunterricht steigt die Erinnerung an die „uralte Mordvergangenheit der Atriden“ in ihm auf, und mit Agamemnon und Klytämnestra verbindet sich jetzt eine neue Furcht: „Irgendwie lag die Gewalttätigkeit in der Luft.“

Erscheinung von etwas Außergewöhnlichem

Karl Heinz Bohrers Buch ist, seinem Programm wie seiner Wirkung gemäß, mehr Spürsinn als Wissen. Die „Erscheinung von etwas Außergewöhnlichem“ liegt in der Luft, und was sich Mitte der vierziger Jahre in Deutschland abspielt, ist ein Bruch aller humanen Gesittung: Nach dem Krieg wird nichts mehr so sein wie zuvor. Die relative Unbefangenheit aber, die sich der Junge bewahrt, hält ihn wach für neue Erfahrungen, neue Stimmungen, neue Gefühle. Ob es die Trennung der Eltern ist, die ihn beunruhigt, ob der Tag der Erstkommunion tatsächlich wie eine Verheißung und Verwandlung erfahren wird, während „für die Erwachsenen der Alltag wie gewöhnlich weiterging“, oder ob der Anblick eines illustrierten Buches durch Schönheit und Fremdheit fasziniert – die Welt bleibt, wie das Numinose, Tremendum und Faszinosum zugleich. Der Vater, ein Nationalökonom, der seinen Sohn weder zu den Pimpfen noch zur Hitlerjugend gehen lässt, bereitet eine „Denkschrift für die Alliierten“ vor, für die Zeit nach den Bombenangriffen. In der Nähe des Internates wird ein amerikanischer Bomber abgeschossen, und die Jungen finden einen Toten, einen „Negersoldaten“, aus dessen Seite „Teile der Eingeweide“ hervorquollen. Die Internatsschüler hatten noch nie einen Toten und noch nie einen Neger gesehen, und die Welt, die früher so aufregend gewesen war, die war nun zunehmend in „ein riesiges, böses Chaos getaucht“ und überschattet von Grausamkeiten.

Die Welt hält viele unliebsame Überraschungen bereit. Da ist beispielsweise der übergriffige Priester, der im Beichtstuhl nach dem „Wohlgefallen“ fragt, das der Junge „beim Anblick von Mädchen“ empfunden haben mochte. Wenn man weiß, dass Hartmut von Hentig, der Pädagoge und Nestor der Reformpädagogik, auf dem Birklehof Lehrer war (von 1953 bis 1955), dass dieser Hentig, der Freund und Lebensgefährte von Gerold Becker (dem mutmaßlichen Haupttäter im Pädophilen-Skandal um die Odenwaldschule), später Bohrers Kollege war an der Reformuniversität Bielefeld, dann versteht man Bohrers Hass auf die „grauenhafte“ Bielefelder Pädagogik, die allem Hohn zu sprechen schien, für das diese Leute einstanden. Als der Kaplan zum „absolvo te“ ansetzte, da geriet der Junge in seine solche Wut, dass er die „hölzerne Beichtstuhltür“ aufstieß und die „nahesitzenden Betenden“ aufschreckte.

Der Sieg der Alliierten ist dann sachlich und sprachlich mehr als gerechtfertigt – und überdies sprechen sie die Sprache Shakespeares, die dem Jungen schon durch den irischen Großvater vertraut schien. Auch die Nachkriegszeit bringt freilich Hässliches und Bedrohliches neben Willkür und Schönheit. Ein gewaltiger Aufbruch steht bevor, der die Nazijahre wie einen bösen Traum erscheinen lässt. Die Menschen sind irgendwie „ergriffen“, auch wenn sie das Neue nicht begreifen können: „Ihr Denken“, so Bohrer, „war ganz in der bürgerlichen Tradition verankert, nicht in den neuen Ideen.“ Man begreift hier, was das bürgerliche Moment in dieser Zeit noch bedeutete – Walter Kempowski hat es in den „bürgerlichen Romanen“ seiner „Deutschen Chronik“ beschrieben. „Was am meisten zur Familie gehörte“, so heißt es in „Granatsplitter“, war die Stadt: „Wie sehr liebten der Vater und sein Bruder diese Stadt!“ Die nun zerstört ist, wie viele bedeutende Großstädte im ganzen Land. Einst kannte man jede kleine Straße, jede Kirche, jedes Denkmal – nun findet man sich nicht mehr zurecht. Hinzu kommen die Bilder von den „toten Gefangenen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen“, die die Nachkriegswirklichkeit eintrüben. Der Junge stößt sofort auf Eugen Kogons Studie „Der SS-Staat“ (1946 erschienen): „Er las das ganze Buch. Es gab ihm die Gewissheit, dass es sich nicht um einzelne Grausamkeiten einzelner Verbrecher handelte. Vielmehr war dieser ganze Staat ein verbrecherisches System gewesen. […] Zyankali! Wie hoffnungslos und gleichzeitig böse klang es. Grauenhaft.“ Er liest Arthur Koestlers Buch „Sonnenfinsternis“ (1940), das „packendste Buch“ seit Kogons Bericht über den SS-Staat. Der Satz des Saint-Just leuchtet ihm ein, der da lautet: „Niemand kann regieren, ohne schuldig zu werden.“ Max Kommerells Trauerspiel „Die Gefangenen“ (1948) überzeugt ihn von der „geistigen Erbarmungslosigkeit des Bolschewismus“.

Diese „innere Spannung ohnegleichen“, die gesucht wird und doch schwer auszuhalten ist, prägt die kommenden Jahre. Der Vater kann sich über den Verlust seiner Vaterstadt nicht hinwegtrösten. Der Junge aber fasst Vertrauen, als es zur Nürnberger Urteilsverkündung kommt: „Als er das Aussprechen der Todesurteile hörte, so als ob schon die drei englischen Worte (‚Death by hanging’) die Hinrichtung vollzögen, stieg ein schicksalhaftes Gefühl in ihm auf.“ Mit einer „Mischung aus Furcht und Genugtuung“ vernimmt er die Urteile, die „aus einer höheren und aus einer niederen Gerechtigkeit“ bestehen. Ihn fasziniert der quasi performative sprachliche Akt der Verkündung des Urteiles als des Wortes, auf das die Tat folgen wird. Er, der sich schon immer für Sprache interessiert hat, ist jetzt neu von ihr und ihren Möglichkeiten affiziert, auch wenn in der Schule von Nürnberg nicht gesprochen wird. Er will diese Sprache und ihre Macht beherrschen lernen: „Er fühlte sich wohl dabei, Kausalsätze, Konditionalsätze, Finalsätze, Temporalsätze, alle Nebensätze, die es gibt, voneinander zu unterscheiden. Er tat das besonders gerne. Viele konnten das überhaupt nicht. Folge und Absicht zu unterscheiden. Das Gefühl von Ordnung und Übersicht gefiel ihm außerordentlich. Aber auch die Unterscheidung selbst zu treffen, gefiel ihm.“

Auf Elysischen Feldern

Bohrers Buch zerfällt in drei Teile und neun Kapitel. Im Internat stehen Veränderungen an, so beginnt der zweite Teil, dem Griechischunterricht und seiner Vermittlung der Antike eignet „etwas Düsteres und Schönes“, etwas, „das er fürchtete, das ihn aber gleichzeitig anzog“. Alle Paradigmen, die wir aus Karl Heinz Bohrers publizistischer und wissenschaftlicher Arbeit kennen, werden hier deutlich: das „Griechische“ als das „Großartige“ schlechthin; die „angeregte Phantasie von Außerordentlichem und Gefährlichem“; der furchterregende Alltag, die „plötzlichen Überraschungen, das Unvorhergesehene“; das „Unbekannte“, das als „wunderbar“ und „geheimnisvoll“ wahrgenommen wird; das „Erhabene“, das alles emporhebt. Die beunruhigten Eltern beobachten mit Sorge, wie der Junge seinen „einsamen Ideen“ nachhängt. Mit dem Ende der Obertertia bekommt der Junge einen neuen Deutschlehrer, der ihm zum ersten Mal bewusst macht, „dass Dichtung nicht nur aus einem Inhalt, nicht nur aus Ideen bestand, sondern aus besonderen Wörtern“. Er schließt sich einer Theatergruppe an, die ganze Welt wird Bühne. Je stärker dieser Wilhelm Meister die „Künstlichkeit“ der Bühnensprache, -gestik, -mimik spürt, desto größer wird in ihm das Gefühl, „etwas ganz Wichtigem, Besonderem und auch Geheimnisvollem“ beizuwohnen. Das „Wunder des Theaters“ fällt mit den Schrecken der Adoleszenz zusammen, dem Schock des erwachten Trieblebens, den prächtigen Bildern, die von den Mitspielerinnen in ihm lebendig werden. Die Literatur der Moderne hat es ihm angetan, er liest Hofmannsthal, Baudelaire, Kafka, selbst Chaucer, und auch wissenschaftliche Literatur beschäftigt ihn früh: „Die Entdeckung des Geistes“ (1946) von Bruno Snell, „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“ (1948) von Ernst Robert Curtius.

Auf der Universität findet er weder einen Freund noch eine Freundin. Das Resümee seiner ersten Studienjahre fällt bescheiden aus: „Nichts Erhabenes, nichts Erhebendes.“ Doch der Ausklang ist wieder spannungsvoll. Ein Gastaufenthalt in England, im Land der Sieger, bringt ihn auf neue Gedanken. Mit anderen deutschen Studenten lebt und arbeitet er vier Wochen in einem Camp „tief im Herzen Englands“, in der Nähe der Stadt Canterbury. Hier gab es „große Apfelplantagen, wo sie arbeiten sollten“. Später wird er von einem distinguierten Herrn nach London eingeladen: „Innerhalb von zehn Minuten war er in einer neuen Welt aufgetaucht, von der er bisher nichts gewusst hatte.“ Die englische „kindness“ seines Gastgebers ergreift ihn bis ins Mark. Guy und sein Lebensgefährte Julian, die beide gut Deutsch sprechen, mögen Oscar Wilde und seinem Freund Alfred Lord Douglas nachempfunden sein; sie erschließen ihm das englische Theater in Gestalt von Laurence Olivier, den sie zu sich nach Hause einladen: „Er hatte ihn gesehen und ihm die Hand gegeben und gelächelt.“

So endet Bohrers Buch – mit einem Bildungserlebnis der prägenden Art, und mit einem Gedanken: „Es war die zweite Dezemberwoche 1953. Auf dem Schiff, wieder an der Reling stehend, blickte er zurück, bis die Küstenlinie verschwunden war. In ihm kam der Gedanke auf, dass es nicht die Küste war, die verschwand. Die würde ja daliegen wie immer, auch wenn er sie nicht mehr sah. Was endgültig verschwand, waren seine englischen Tage. Daran änderte die Erinnerung nichts. Nein, die Erinnerung änderte das Verschwinden nicht. Dass etwas für immer endgültig verschwindet, nicht als Ort, aber als Zeit, das empfand er in diesem Augenblick zum ersten Mal.“

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Granatsplitter. Erzählung einer Jugend.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446239722

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