Ein jüdischer Kohlhaas

Ursula Krechels großer Roman „Landgericht“ über das Schicksal eines jüdischen Exilanten, der nach Deutschland zurückkehrt und vergeblich nach Gerechtigkeit sucht

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie fühlt es sich an, den eigenen Ehepartner, den man elf Jahre nicht gesehen hat, von dem man über Jahre gar nicht mehr gewusst hat, ob er noch lebt oder nicht, plötzlich wiederzusehen? Mit einem solchen Wiedersehen beginnt Ursula Krechels Roman „Landgericht“: Am Bahnhof Lindau am Bodensee stehen sich Richard Kornitzer und seine Ehefrau Claire nach Jahren der Trennung wieder gegenüber. Musste er als Jude ins Exil gehen, um „seine Ermordung zu verhindern“ wie er später schreiben wird, konnte sie als Arierin zunächst noch in Deutschland bleiben und später durch den Kriegsausbruch das Land nicht mehr verlassen. Es ist eine packende Szene, dieses Wiedersehen am Bahnhof, mit der Ursula Krechel ihren Roman „Landgericht“ eröffnet, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Autorin sprachliche und erzählerische Meisterschaft besitzt, und dass das, was hier erzählt wird, Gewicht hat.Krechel schreibt von jener kleinen Minderheit von Exilanten, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkommt. Dass es kein „Heimkehren“ ist, zeigt die Autorin anhand der Figur des Richters Richard Kornitzer, der durch das NS-Regime alles verloren hat, sich im Nachkriegsdeutschland erst wieder mühsam eine Existenz aufbauen muss und – als Jurist mit besonderer Sensibilität für Gerechtigkeit ausgestattet – jahrzehntelang unermüdlich für Gerechtigkeit, für Wiedergutmachung oder wenigstens finanzielle Entschädigung für das erlittene Unrecht kämpft und am Ende erkennen muss, dass sein lebenslanger Kampf vergebens war.

Als Stoff für einen großen Roman, der sich der unerschöpflichen Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Gerechtigkeit annähert, ist das eigentlich genug. Doch Krechel wollte mehr als nur das schwierige, beinahe unmögliche Heimkehren, das langsame Zueinanderfinden der Eheleute, die problematische Annäherung an die beiden Kinder, die damals vier- und siebenjährig mit einem Kindertransport nach England geschickt worden waren, schildern, sich nicht auf das Nach-dem-Krieg und Kornitzers Kohlhaas-Feldzug gegen die Bundesrepublik beschränken. Und so wird, was als Heimkehrergeschichte beginnt, nach fast genau zweihundert Seiten abrupt unterbrochen.

Fast wie der Beginn eines Romans im Roman wirkt das weite Ausholen in die Vergangenheit, der Schauplatzwechsel ins Berlin der 1930er-Jahre, wo Kornitzer, als Jurist am Landesgericht Berlin tätig, und Claire sich kennenlernen, in dem für sie alle Zeichen auf Aufbruch stehen, bevor ihre Hoffnungen durch das erstarkende NS-Regime nach und nach zerstört werden. Auch Kornitzers Jahrzehnt in Kuba wird in der Folge in aller Ausführlichkeit dargestellt, bevor Krechel – nach fast zweihundert Seiten Vergangenheitsexkurs – den eigentlichen Erzählfaden wieder aufnimmt, zurückkehrt zum Heimkehrer, der am Ende immerhin Landesgerichtspräsident in Mainz geworden ist, sogar noch zum Senatspräsidenten ernannt wird und für sich selbst doch nur ein Gescheiterter bleibt, dessen Kampf um Gerechtigkeit ein vergeblicher war. Andere Autoren hätten aus der Stofffülle vielleicht zwei oder gar drei Romane gemacht, Krechel versucht es in einem. Dem Mut, ein ganzes Leben in einem Buch abzuhandeln, kann man Respekt zollen. Aber natürlich lauert darin immer die Gefahr, sich im Uferlosen zu verlieren. Vor allem auch, weil Krechel das klug ausgedachte fiktionale Handlungsgerüst zusätzlich mit jeder Menge sorgfältig recherchierter geschichtlicher Realität, mit Briefen, die in Archiven erhalten geblieben sind, mit Zeitungsartikeln versetzt und reale Figuren ins Romangeschehen einflicht. Alles zusammen ist das ein bisschen viel. Man kann das auch als erzählerische Anmaßung auffassen, Fiktion solchermaßen mit Geschichte zu durchsetzen, ohne diese Verquickung zu thematisieren. Gelungen ist es aber allemal, der Roman als Ganzes wirkt als Wirklichkeitshypothese tatsächlich durchaus glaubwürdig. – Ob dieses Ineinanderflechten von Fakten und Fiktion aber notwendig war für das Gelingen des Romans, ob das dem Roman guttut, ist eine andere Frage.

So wie der lange Einschub über die Vor- und Kriegszeit für den Leser ein wenig irritierend wirkt, so irritierend ist es auch, nicht zu wissen, wie weit die Fiktion reicht und wo hier tatsächliche Geschichte beginnt. Ein wenig wirkt es so, als hätte Krechel nicht genügend Mut gehabt, sich ganz auf ihr erzählerisches Vermögen zu verlassen, als wolle sie die These, die ihr Roman aufstellt, mit möglichst viel Wirklichkeitsgehalt unterfüttern. Oder aber ihr waren die Möglichkeit eines Romans, einer literarischen, philosophisch-abstrakten Darstellung, zu wenig und sie wollte stattdessen eine hieb- und stichfeste, konkrete Anklageschrift formulieren, die zwar poetisch klingt und so tut als sei sie Literatur, aber deren Gewicht doch ein tatsächliches, reales ist. Das ist schade, denn die Unentschiedenheit, die sich daraus ergibt, stört. Bei aller noch so aufwendigen Recherchearbeit kann ein Roman doch nie eine juristische Anklage sein, sondern bleibt Fiktion; und für eine überzeugende literarische Darstellung des Schicksals der Hauptfigur braucht es allzu viel konkrete Aktenrealität nicht. Schade ist das umso mehr, als dass es gerade die psychologisch überaus gelungene Darstellung der von Verlusten gebeutelten und von einer Enttäuschung zur nächsten taumelnden Eheleute ist, die den allergrößten Reiz des Romans ausmacht. Dort, wo Krechel nicht faktengetreut berichten will, sondern sich ganz auf ihre erzählerischen Fähigkeiten verlässt, den Figuren Freiraum gibt, dort ist sie am besten.

Dass es der Roman auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft hat, ist kein Zufall. Es ist ein wichtiges Buch, eines, das einem als Leser noch lange nachgeht, weil die Ungerechtigkeit, die den Figuren widerfährt, auch heute noch in der Tat kaum fassbar scheint, weil es überzeugend vorführt, wie tief die seelischen Wunden eines Vertriebenen, einer „Displaced Person“ wie Kornitzer eine ist, tatsächlich gehen (womit der Roman im übrigen auch Aktualität besitzt, denn Internal Displaced Persons gibt es laut Schätzungen heute weltweit über 26 Millionen), vor allem aber auch, weil das Schicksal der Figuren berührt. Das zu erreichen, vermögen nur große AutorInnen. Ursula Krechel ist eine davon.

Titelbild

Ursula Krechel: Landgericht. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2012.
495 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783990270240

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch