Das Herz links oben unterm Arm

Renate Bleibtreus Neuübersetzung von August Strindbergs „Das Rote Zimmer“

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die gute Nachricht zuerst: es ist schön, dass der bedeutende und anregende Roman „Das rote Zimmer“ des schwedischen Schriftstellers August Strindberg endlich wieder im deutschsprachigen Raum lieferbar ist. Die schlechte Nachricht dagegen: die Neuübersetzung von Renate Bleibtreu kann leider nicht überzeugen und muss teilweise sogar als missglückt bezeichnet werden.

August Strindberg (1849-1912) hat mit „Das rote Zimmer“ einen Roman geschrieben, der bei seinem Erscheinen 1879 großes Aufsehen erregte. Er kam allein in den ersten zwei Jahren auf vier Auflagen mit rund 6.000 Exemplaren, womit er zur damaligen Zeit ein großes Lesepublikum erreichte. Ein vergleichbarer Erfolg war erst 30 Jahre später Selma Lagerlöf beschieden.

Die Literaturgeschichte bezeichnet „Das rote Zimmer“ als den ersten Roman des „Modernen Durchbruchs“ in Schweden, weil er erstmals die Wirklichkeit der modernen Großstadt zum Thema hat. Die naturalistische Darstellung des städtischen Lebens, geschrieben in journalistischer Umgangssprache, verstörte das traditionelle Publikum ebenso wie die Komposition aus einer Folge von 29 Szenen plus einem Epilog und die durchaus satirische Zuspitzung der Missstände in der sich neu formierenden städtischen Gesellschaft. All das zusammen machte jedoch auch seinen Erfolg aus. Und genau deshalb ist es auch heute noch ein großes Vergnügen, diesen „wilden“ Roman zu lesen.

Sein Beginn ist legendär und geradezu genial: In „Stockholm aus der Vogelperspektive“ wird erst wie in einer Nahaufnahme die im Frühling erwachende Natur im Garten auf dem Hügel Mosebacke in Stockholm beschrieben. Danach weitet sich der Blick und schweift hinunter auf die Stadt und das dort unten pulsierende Leben. Nach diesem Panorama über die den Roman prägende Szenerie tritt dann die Hauptfigur Arvid Falk auf, der sich in dem Gastgarten mit dem Journalisten Struve verabredet hat. Diesem teilt er mit, dass er seine gerade erst begonnene Beamtenlaufbahn beendet habe, um von nun an als Literat sein Leben zu fristen. Er begründet den Entschluss mit der unerträglichen Sinnlosigkeit der Bürokratie, deren Beschreibung eine wunderbare Satire ist.

Die satirische Überzeichnung ist überhaupt das Markenzeichen dieser „Schilderungen aus dem Künstler- und Schriftstellerleben“, wie der Untertitel des Romans lautet. Der idealistische junge Arvid Falk bekommt als Neuling Zutritt in den Kreis der Künstler, die sich im Roten Zimmer im Lokal „Berns Salon“ treffen. In diesem Kreis sind allerlei Typen vertreten, Pessimisten, Autodidakten, Philosophen und nicht zuletzt Zyniker wie der Mediziner Borg. Falk, der sich als Schreiberling für eine liberale Zeitung ein karges Honorar verdienen will, kommt in der Gesellschaft herum und erlebt beispielsweise, wie mit der Gründung der Seeversicherungsaktiengesellschaft „Triton“ Anleger auf derb kapitalistische Weise um ihr Geld gebracht werden. Als heutiger Leser reibt man sich verwundert die Augen über Strindbergs präzise Beschreibung dieser legalen Betrügereien seiner Zeit, die auch noch die heutige Finanzkrise erklärt. Zugleich machen die Gattinnen der Kapitalisten auf Wohltätigkeit, aber nur so lange, wie es nicht zu schmutzig wird.

Strindberg führt uns auf sehr vergnügliche Weise ein unterhaltsames Kaleidoskop der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit vor Augen, die gar nicht so weit von uns entfernt sind, wie man angesichts des Zeitunterschieds meinen mag. Doch bei all seiner sprachlichen Frische und Direktheit schwingt ein bitterer Unterton darüber mit, wie die neuen großstädtisch-kapitalistischen Verhältnisse den Menschen verformen, ohne dass eine wirksame Gegenwehr möglich zu sein scheint. Im Epilog erfahren wir, dass der Salonrebell Falk geheiratet und sich in der Bürgerlichkeit eingerichtet hat. Das ist dann gar nicht mehr lustig – oder vielleicht gerade doch.

Strindbergs Erfolgsroman wurde erstmals 1889 von Heinrich Ortenburg ins Deutsche übersetzt. Es gab später die Übersetzung Emil Scherings, der fast das gesamte Werk Strindbergs ins Deutsche übertragen hat, leider oft sehr eigenwillig. Weitere Übersetzungen sind die von Willi Reich für den Verlag Langen-Müller, die auch als Goldmann-Taschenbuch in Westdeutschland verbreitet wurde, während die von Hilde Rubinstein aus dem Jahr 1963 mehrfach in der DDR verlegt wurde. Eine neue, zeitgemäße Übersetzung war zweifellos fällig, die nach Möglichkeit die Frische des Originals transportieren und die historische Distanz wahren würde. In der Manesse Bibliothek der Weltliteratur, die sich schon um manches Buch verdient gemacht hat, liegt nun genau 100 Jahre nach Strindbergs Tod eine Neuübersetzung von Renate Bleibtreu vor.

Leider muss man sie als gescheitert bezeichnen. Denn statt die Unmittelbarkeit der Sprache wiederzugeben, die Strindbergs Roman zu seiner Zeit ausstrahlte, weil er als einer der ersten die Umgangssprache in die Literatur brachte, klingt Bleibtreus Sprache oft künstlich alt. Möglicherweise ist sie das Opfer ihrer allzu ambitionierten Recherche geworden. Ein Beispiel: gleich zu Beginn des Romans sagt Falk zu dem Journalisten, der ihn mit Assessor anspricht, dass er diesen Titel nicht mehr beanspruchen könne, weil er nicht mehr im Beamtendienst sei. Bleibtreu übersetzt: „das war ich nie, sondern nur außeretatmäßiger Notar.“ Dazu setzt die Übersetzerin eine Fußnote – eine von 281 das Lesevergnügen hemmenden Fremdkörpern im Roman – und erläutert: „Schwed. ordinarie notarie, Beamtenanwärter auf Honorarbasis; deren Zahl überstieg das Stellenangebot bei Weitem, weshalb sie sich in Erwartung von Aufträgen bei mehreren Behörden registrierten.“

Abgesehen von dem kleinen Fehler, dass vor dem ordinarie das extra fehlt, ist die Übersetzung als Notar ausgesprochen unglücklich, da im Deutschen mit Notar etwas ganz anderes assoziiert wird als ein Beamtenanwärter. Rubinstein wählt die Bezeichnung „Hilfsschreiber“, was die Sache sicher besser trifft. Gerade bei der Übersetzung von Realien wählt Bleibtreu immer wieder Bezeichnungen, die, vorsichtig ausgedrückt, eher veraltet sind, so etwa wenn sie im zwölften Kapitel Sjöförsäkringsaktiebolaget mit „Seeversicherungskompanie“ übersetzt, eine im Deutschen eher ungewöhnliche Bezeichnung. Dabei ist aktiebolag zu Strindbergs Zeiten, und auch heute noch, allgemein üblich das, was man im Deutschen eine Aktiengesellschaft nennt.

Derart könnte man mit manchen verunglückten Bezeichnungen fortfahren, doch sei nur noch ein Beispiel genannt: Aus einem statsråd macht sie einen Staatsrat, wo im Deutschen ein Minister gemeint ist. Aus einem statsrådsfrack wird dann allerdings ein „Ratsherrenfrack“, von dem man nicht versteht, warum ein Reichstagsabgeordneter nach einem solchen streben sollte. Gemeint ist aber natürlich ein Ministersessel. Könnte man derlei als Merkwürdigkeiten abtun, die leider gelegentlich das Verständnis des Texts erschweren, so wiegen Fehler bei der Übersetzung von phraseologischen Wendungen deutlich schwerer.

Geradezu grotesk ist es, wenn sie schreibt: „Da zog er sich an und lief, das Herz oben links unterm Arm“. Was soll „das Herz oben links unterm Arm“, fragt man sich. Gemeint ist ein heftiges Herzklopfen. Noch ein Beispiel: Als die schon etwas angetrunkene Gesellschaft der Künstler in ein illegales Freudenhaus kommt, heißt es: „kam die Frau ans Tor und öffnete, ließ die Gesellschaft gegen das Versprechen leise zu treten, ein“. Leisetreten ist im Deutschen etwas anderes als leise aufzutreten oder leise zu sein. Ähnlich verhält es sich mit der Phrase „Gotteslohn“. Für Gotteslohn arbeiten, bedeutet im Deutschen, für keinen Lohn, also ohne Bezahlung arbeiten. Wenn sie schreibt: „Er hat schon lange keinen Gotteslohn mehr gesehen“ müsste der Betreffende eigentlich schwer reich sein und nicht schon lange kein Geld mehr gesehen haben, was hier gemeint ist. Derlei Ungereimtheiten kommen leider nicht nur gelegentlich vor, sondern in Serie.

Es ist sicherlich richtig, dass man einen 133 Jahre alten Roman nicht wie einen zeitgenössischen behandeln und übersetzen darf und deshalb mit einem gewissen Pastiche arbeiten muss. Renate Bleibtreu hat sich mit gutem Recht dafür entschieden, die alte schwedische Anrede in der dritten Person zu belassen. So wird die historische Distanz sehr gut hergestellt. Aber ansonsten ist ja, wie schon gesagt, das Merkmal dieses Romans, dass er den Zeitgenossen gerade durch seine direkte Sprache auffiel. Deshalb leuchtet es nicht ein, im Deutschen durch gestelzte Wendungen und ungewöhnliche bis geradezu falsche (Berufs-)Bezeichnungen den Text künstlich altern zu lassen.

Manche schräge Ideomatik hätte ein aufmerksames Lektorat bemerken und korrigieren müssen, weil sie im Deutschen erkennbar falsch ist. Weitere Schlampereien des Lektorats kommen hinzu, zum Beispiel wenn im Nachwort von Peter Henning das Schlusskapitel erwähnt wird, das es tatsächlich in den bisherigen Übersetzungen war, aber in der vorliegenden Übersetzung erst das vorletzte bildet. In einer editorischen Notiz weist die Übersetzerin darauf hin, dass sie den vom schwedischen Originalverleger entfernten Epilog hier erstmals in deutscher Übersetzung als Schlusskapitel aufgenommen hat. Außerdem nennt Henning in seinem Nachwort Arvid Falk „Assessor“, während in der Übersetzung doch so missverständlich „Notar“ steht.

Fazit: Diese Ausgabe ist der bedauerlicherweise misslungene Versuch, einen großen Roman des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum wieder zu beleben. Bei allen Unzulänglichkeiten der Übersetzung Hilde Rubinsteins ist diese im Vergleich zu der von Renate Bleibtreu die frischere, mit der sich der des Schwedischen Unkundige so lange begnügen muss, bis eine modernen Ansprüchen genügende auf den deutschsprachigen Buchmarkt kommt.

Titelbild

August Strindberg: Das rote Zimmer. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Renate Bleibtreu.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
574 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522386

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