„Ereignisse, die das ganze Leben verändern, sehen manchmal nicht danach aus“

Richard Fords neuer Roman „Kanada“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein neuer Roman des US-amerikanischen Autors Richard Ford ist auch hierzulande ein echtes Ereignis. Wie anders ließe sich sonst erklären, dass einen Monat vor Erscheinen des Buches bereits ein ganzseitiges Porträt Fords in der F.A.Z. zu lesen war? Der mittlerweile 68-Jährige lässt sich Zeit mit seinen Büchern, so sind seit dem Erscheinen seines vorherigen Buches sechs Jahre vergangen. Nun also „Kanada“, der mit einem Paukenschlag beginnt: „Zuerst will ich von dem Raubüberfall erzählen, den meine Eltern begangen haben. Dann von den Morden, die sich später ereigneten.“

Ungeheuerlich, sowohl inhaltlich, als auch formal. Ist das nun eine Beichte? Gar ein Krimi? Wohl kaum. Der da erzählt, ist ein Mann namens Dell Parsons, Collegeprofessor für Literatur, 66 Jahre alt. Die genannten Ungeheuerlichkeiten haben sein Leben geprägt, den Gang der Dinge seines Lebens verschoben, von den Vereinigten Staaten gen Norden, nach Kanada. Im Jahr 1960 haben seine Eltern, die Familie lebte damals in Great Falls, Montana, eine Bank im benachbarten Bundesstaat North Dakota überfallen. Sie waren keine Bankräuber im professionellen Sinn, vielmehr trieb sie die Not und die fortwährende Erfolglosigkeit beruflicher Bemühungen und Ideen dazu, gepaart mit sich gefährlich zuspitzenden Entwicklungen illegaler Geschäfte, die Dells Vater initiiert hat. Dieser Bev Parsons, der die Air Force verlassen hat, nachdem die Familie eine Zeitlang von Stützpunkt zu Stützpunkt zog, versucht sich im Zivilleben als Auto- und Gebrauchtwagenverkäufer, sattelt dann um auf den Verkauf von Ranches und Farmland und betreibt nebenher, weil all seine Unternehmungen nicht den gewünschten Wohlstand bringen, einen gesetzeswidrigen Handel mit gestohlenem Fleisch. Die ihm daraus erwachsenden Schwierigkeiten treiben Bev dermaßen in die Enge, dass er seine Frau Neeva, eine kleine und kluge Person, die ihren Kindern Dell und Berner – eineiigen Zwillingen –, Bildung und musische Beschäftigungen ermöglichen möchte, zu diesem wahnwitzigen Coup überredet. Der zwar, was den Kern eines Bankraubs angeht, das Erbeuten von Geld, gelingt, doch nur wenige Tage nach der Tat steht die Staatsmacht vor der Tür und im Haus.

Kurze Zeit später sind die Eltern auch schon im Gefängnis und die zu jener Zeit 15-jährigen Geschwister alleine in ihrem Haus. Berner, die bereits einen Freund hat und auch sonst eine eher flatterhafte Natur ist, haut eines Tages ab, Dell wird von einer Freundin seiner Mutter nach Saskatchewan, Kanada gebracht. Der in zwei große Teile und einen kleinen abschließenden Teil gegliederte Roman beschreibt fortan Dells neues Leben jenseits der Grenze zu den USA. In Kanada ist er im weiteren Sinne in der Obhut Arthur Remlingers, eines aus lange Zeit ungeklärten Gründen in Kanada lebenden Amerikaners, der in Fort Royal das Hotel „Leonard“ betreibt.

Im engeren Sinn jedoch ist Dell Parsons einem gewissen Charley Quarters unterstellt. Mal arbeitet der Junge im Hotel, mal geht er Quarters zur Hand, der an eine der schrägeren Figuren aus einem David Lynch-Film erinnert, schminkt er sich doch manchmal und macht daraus keinen Hehl. Mit ihm bereitet er für die sogenannten „Sportsfreunde“ die Gänsejagd vor, hebt Gänsegruben aus, setzt Lockvögel. Überhaupt hat sich das Leben des Jungen von Grund auf verändert. Er, der sich in Bücher versenken konnte, der sich mit Bienen beschäftigt und das Schachspiel erlernt hat, der trotz des etwas unsteten Alltags zu Hause immer ein strukturiertes und fremd bestimmtes Leben geführt hat, muss nun arbeiten und vor allem gänzlich alleine in einem windschiefen Schuppen in Partreau wohnen. Die wenigen Meilen nach Fort Royal und zu Arthur Remlinger legt er mit dem Fahrrad zurück.

Remlinger ist es dann auch, der für eine weitere dramatische Wende im noch jungen Leben des Dell Parsons sorgt. Zwei Männer, so geht das Gerücht, seien aus den USA unterwegs nach Saskatchewan, um nach ihm zu suchen, der dunkle Fleck auf Remlingers Vergangenheit wird allmählich sichtbar. Doch wie dieser mit der ihn bald handfest bedrohenden Situation umgeht, ist schockierend und verstörend. Aber darauf hat Richard Ford seine Leser ja bereits im zweiten Satz dieses großartigen und äußerst lesenswerten Romans hingewiesen. Eine kühne Entscheidung, die Klimax voranzustellen, um dann im Verlauf vieler hundert Seiten die Auflösung oder Auflösungen detailreich und komplex nachzureichen. Es zeugt von großer Meisterschaft, wie umfassend Ford diesen Lebensbericht eines mehrfach traumatisierten und doch erstaunlich lebensfähigen Mannes lebendig und facettenreich erzählt.

Und „Kanada“ reiht sich ein in eine immer länger werdende Liste von Büchern, in denen der amerikanische Traum nicht gelingt und es somit nicht zum gewünschten und vom Mythos quasi vorher bestimmten guten Leben kommt, welches ohne Umwege ins Paradies führt. Trotzdem ist das Buch ein sehr amerikanisches geworden, eines, das Orte und Landschaften benennt und somit das Land wiedererkennbar und glasklar sichtbar macht. Ford ist ein Meister in der Beschreibung von Natur, ebenso in der exakten und weit ausholenden Schilderung von Abläufen, wie dem Bankraub oder der Gänsejagd. Bestechend aber sind seine Porträts – wie er Gesichter, Haare und Frisuren, Kleidung und Körperbau beschreibt, das macht die handelnden Personen plastisch, stellt sie in die Umgebungen, die Räume, das Land.

Eine nette und augenzwinkernde Anekdote ist es da, dass Richard Ford die beiden Hauptorte im Mittelteil des Buches erfunden hat. Ein Auszug aus „The StarPhoenix“: „Fort Royal and Partreau are two Saskatchewan towns you’ve probably never heard of. They’re both in the province’s southwest, a mere six kilometres apart on Highway 32. Fort Royal is the larger of the two. Its amenities include two hotels, several stores, a pool hall, a Chinese cafe, a rink, a Royal Bank, a fire station, two doctors’ offices, six churches and a movie theatre. Partreau boasts of nothing. With eight streets, 18 houses that have seen better days and old storefronts that have long been vacant, it’s fading into a ghost town. These descriptions could apply to any number of prairie towns. But the fact is they exist only as a result of Richard Ford’s imagination.“

Titelbild

Richard Ford: Kanada. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Frank Heibert.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
462 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446240261

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