Meisterhafte Parabel auf die Zwischenkriegszeit

Hermann Ungars meisterhafte Parabel „Die Klasse“ in einer Neuausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick erinnert die Eingangsszene an die vielen Schülergeschichten nach 1900: Fast schon klischeehaft steht da ein Lehrer als erbarmungsloser Zuchtmeister vor seinen Zöglingen. Dieser Josef Blau ist offenkundig kein Anhänger der damals aufkommenden Reformpädagogik. Er bevorzugt den guten alten Frontalunterricht, um jede Unruhe im Klassenzimmer bereits im Keim zu ersticken.

Und doch ist in Hermann Ungars Roman „Die Klasse“ vieles anders: Dass im Mittelpunkt kein Schüler, sondern der Lehrer steht, kannten die Leser bereits aus Heinrich Manns „Professor Unrat“. Neu hingegen war Ungars psychologisch präzise Schilderung der verstörenden Innensicht des Protagonisten. Josef Blau ist kein Sadist, sondern ein Diktator aus purer Verzweiflung; vor seinen Schülern hat er mindestens so viel Angst wie sie vor ihm. Dass er aus ärmlichen Verhältnissen stammt, er aber die Sprösslinge der Oberschicht unterrichtet, führt bei dem Pädagogen zu der Zwangsvorstellung, von seinen Schülern eines Tages sozial deklassiert zu werden.

Und dass seine junge Frau Selma gerade hochschwanger ist, lässt ihn befürchten, von seinen pubertierenden Schülern als Triebwesen entlarvt und verspottet zu werden. In seiner von Komplexen und Verfolgungswahn gesteuerten Wahrnehmung wird Josef Blau sich selbst zur Spottfigur, zum „armseligen behaarten Gerüst von Knochen“. Für ihn steht fest: Die Revolte seiner Schüler ist längst im Gange, sein drohender Sturz in den Abgrund der Lächerlichkeit unvermeidlich; alles, was er mit seiner Strenge noch erreichen kann, ist Zeit gewinnen.

„Es war eine unterirdische Verschwörung, eine Verschwörung unter den Bänken, eine Verschwörung der nackten Waden bei geduckten, gehorsamen Oberkörpern. Es gab keine andere Möglichkeit als diese: die Knaben brachten die Beine aneinander, vorwärts, seitwärts. In den kurzen Strümpfen und in den Schuhschäften wurden die Mitteilungen zugesteckt und empfangen. Die Starre und Unbeweglichkeit war nur über den Bänken, unter der Oberfläche war Bewegung und Anarchie. Unter den Bänken hatte sein Blick keine Gewalt. Während die Köpfe und Rümpfe gehorchten, hatten die nackten Beine sich empört. Es war der Anfang. Die Zucht löste sich von unten, während er da war, sie fest begründet glaubte, glaubte, dass kein Zeichen der Bewegung ihm entging. Sie fürchteten ihn nicht, wenn er ihnen gegenüberstand. Was geschah, wenn sie seinem Blick entzogen waren?“

„Die Klasse“ erschien 1927 und war Hermann Ungars zweiter Roman. Wie schon seine früheren Werke – der Novellenband „Knaben und Mörder“ und der Roman „Die Verstümmelten“ – provozierte auch „Die Klasse“ selbst bei wohlwollenden Kritikern ambivalente Reaktionen. Oskar Loerke rang sich immerhin zur Prophezeiung durch, der Roman werde als „Dokument unserer Zeit übrig bleiben“. Tatsächlich aber geriet „Die Klasse“ wie auch das übrige Werk Ungars nach seinem frühen Tod 1929 bald in Vergessenheit. Bis heute ist der Autor über den Status eines „Geheimtipps“ nicht hinausgekommen.

Das unterscheidet den aus dem mährischen Boskovice stammenden Prager Literaten von Franz Kafka. Mit ihm wurde Ungar schon zu Lebzeiten verglichen, ist doch die Atmosphäre seiner Texte vergleichbar düster und beklemmend, der bizarren Komik einzelner Szenen zum Trotz. Ungars Protagonisten sind Opfer diffuser Schuld- und Schamgefühle; in einer ausweglos anmutenden Welt kämpfen sie gegen einen über sie verhängten Richterspruch. Die Sprache Ungars besticht durch eine kalte Präzision, die noch so labyrinthischen Gedankenwindungen des Protagonisten mit großer Suggestivkraft folgt – mehr noch als an Kafka erinnert diese Kunst an einen Roman, der erst neun Jahre später erscheinen sollte: „Die Blendung“ des jungen Elias Canetti.

„Das Wort, das man sprach, war unwiederbringlich. Es begann seinen Weg. Es machte die Welt anders. Es berief ein Schicksal, das nicht mehr aufzuhalten war. Man konnte ein Wort sprechen oder das andere, man konnte einen Schritt machen nach links, nach rechts, man konnte das Wort, den Schritt nicht zurückrufen, wenn es gesprochen, wenn er getreten war. […] Wenn man schwieg, nur das Vorhergesehene, das getan werden mußte, tat, beschränkte man die Gefahr. Dass man hätte den Atem anhalten können, den Lauf der Dinge nicht durch seinen Hauch zu verwirren! Schuldlos blieb nur das Atemlose.“

Dieses Kunststück gelingt Josef Blau natürlich nicht. So macht seine Paranoia den Lehrer blind dafür, dass gerade jener Schüler, den er für den Kopf der Verschwörer hält, in Wahrheit seine Hilfe sucht. Und weil Josef Blau in seinem Jugendfreund Modlizki seinen Todfeind vermutet, erkennt er nicht, dass dieser diabolische Diener reicher Herrschaften weniger Blaus Verderben im Sinn hat, als das seiner Schutzbefohlenen: Erst werden die Schüler von Modlizki zu unsittlichen Handlungen verführt, dann in den Selbstmord getrieben. Dies alles, weil sich hinter der Maske des gehorsamen Lakaien ein kalter Revolutionär verbirgt, der seinen Herrschaften ihre schützenden Formen wegnehmen will, um die „Massen“ an die Macht zu bringen.

„‚Ich glaube, dass ich über alles gesprochen habe. Ich bin nicht verstanden worden. Ich hasse nichts und niemanden, habe ich es nicht gesagt? Wenn ich hasste, gehörte ich nicht dazu, wenn ich es recht ausdrücke? Aber wir gehören nicht dazu. Es ist ein großes Theater, auf dem die Herren und Damen spielen, und wir sitzen, denke ich, auf den dunklen Plätzen, einer neben dem anderen und rühren uns nicht und weinen nicht und lachen nicht und es ist, als hörten wir und sähen wir es nicht und ich glaube, dass einmal eine Unruhe über die Spieler kommen muß und dann Unordnung und Verzweiflung.‘“

Mit Modlizki hat Hermann Ungar die vielleicht unheimlichste Dienerfigur der deutschsprachigen Literatur geschaffen, mit seinem Roman eine meisterhafte Parabel: Im Ringen zwischen dem anarchistischen Lakaien und dem sich an die Ordnung klammernden Lehrer spiegelt sich jene unselige Zwischenkriegszeit wider, die von ihren Terror- und Erlösungswünschen schier zerrissen wurde.

Titelbild

Hermann Ungar: Die Klasse. Roman.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
315 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522805

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