Im Irrgarten der Bilder

Zwei Neuerscheinungen bezeugen die anhaltende Beschäftigung des österreichischen Autors Gerhard Roth mit dem Thema „Wahnsinn und Kunst“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als in Gerhard Roths Roman „Der Untersuchungsrichter“ (1988) der Ich-Erzähler einmal eine psychiatrische Anstalt besichtigt, kommt er mit einem der Insassen ins Gespräch. Bald bemerkt er, wie normal dieser Patient ist, und bemüht sich, sein Vertrauen zu gewinnen. Das Gespräch ist mühsam, irgendwann verabschiedet sich der andere – und geht zum Ausgang. Auch er war nur zu Besuch. „Wir hatten also mehr als eine Stunde angestrengt miteinander gesprochen, das Vertrauen des anderen zu gewinnen versucht und ihm seine ‚Normalität‘ bescheinigen wollen, in der gegenseitigen Überzeugung, der andere sei verrückt“, resümiert der Erzähler.

Als den beharrlichen Versuch, die Grenzen zwischen „Wahnsinn“ und „Normalität“ zu irritieren, neu zu ziehen oder ganz aufzulösen – so könnte man das gewaltige Erzählwerk des Grazer Autors zusammenfassen, das 2011 mit „Orkus. Reise zu den Toten“ zu einem vorläufigen Abschluss kam. Dazu gehört für Roth auch, die fatale Logik des Ein- und Ausschließens aufzuzeigen, die pathogene Rolle der Gesellschaft, zumal der seiner „fremden Heimat Österreich“, und die Nähe des Anderen der Vernunft zu den Quellen der Kreativität. 15 Bände umfassen seine beiden miteinander verflochtenen Prosazyklen „Die Archive des Schweigens“ (1980-1991) und „Orkus“ (1995-2011). Die Konzepte von Fiktion und Realität werden in ihnen ebenso in Frage gestellt wie die von Werk oder Urheberschaft. Mit den beiden Zyklen hat sich der nun 70-Jährige nicht nur den Status eines österreichischen Klassikers erschrieben. Sondern auch den eines Anwärters für einen Anruf aus Stockholm.

Die Affinität zum Wahn hat Roths Werk mit dem Elias Canettis gemeinsam. Roths Erinnerung an seine Begegnungen mit dem Autor der „Blendung“ gehört zu den aufregendsten Texten der bei S. Fischer erschienenen Sammlung von „Portraits“. Auf über 300 Seiten sind hier 16 Essays über Autorenkollegen wie Max Frisch, bildende Künstler wie Bruno Gironcoli oder Randexistenzen wie den Briefbombenbauer Franz Fuchs vereinigt. Entstanden als Auftragsarbeiten für Zeitschriften, sind sie von unterschiedlicher Qualität, aber allesamt lesenswert. Die Frage nach dem Rätsel der Kreativität zieht sich als roter Faden durch diese durchweg Männern gewidmeten Texte – von Franz Gsellmann, dem Erbauer der aus unzähligen Einzelteilen zusammengesetzten „Weltmaschine“, bis zum Fußballmagier Ivan Osim, dem legendären Trainer von SK Sturm Graz.

Elias Canetti war von dem damals jungen Autor, der so leidenschaftlich das Konzept der Normalität in Frage stellte, offenkundig angetan. Dass Roth für den sogenannten normalen Menschen den Begriff „Normo-Path“ prägte, amüsierte den Nobelpreisträger, der, wie erst die Nachwelt erfuhr, selbst häufig genug am Rande des Wahnsinns balancierte: „Ich glaube, es war das einzige Mal, dass ich Canetti lachen sah.“ Umgekehrt allerdings verging Roth das Lachen, als bei einer ihrer Begegnungen das Gespräch auf die Nervenheilanstalt Gugging bei Klosterneuburg mit ihren Künstler-Patienten kam. Mit der ihm eigenen Freude am Verurteilen bezeichnete Canetti den Anstaltsleiter Leo Navratil als Arzt, der seine künstlerisch begabten Patienten vorführe „wie ein Zirkusdirektor. Was wahr sein könne, wird durch ihn zur Dressur. … Er staunt nicht mehr wirklich, er peitscht ein.“

Navratils Bücher „Schizophrenie und Kunst“ und „Schizophrenie und Sprache“ waren nach 1965 wegweisend, für die Antipsychiatriebewegung wie auch für viele österreichische Künstler. Roths engagierte Verteidigung des Psychiaters soll immerhin dazu geführt haben, dass Canetti mit einem „Wenn Sie meinen …“ verstummte. Schon damals verehrte der Grazer Autor Navratil dafür, wie er seinen entmündigten, hospitalisierten Patienten Stück um Stück ihre Menschenwürde zurückgab und ihnen eine neue Identität verschaffte. Unter ihnen auch der 2001 verstorbene August Walla, der sein Gugginger Zimmer vollständig ausmalte und in die Kathedrale einer komplexen Privatreligion verwandelte – auch ihm hat Roth ein einfühlsames Porträt gewidmet.

Die ehemalige psychiatrische Einrichtung Gugging – „a Idiotenanstalt“, wie Walla gern, aber völlig unzutreffend, schimpfte, mit „lauta Idioten“ – ist so etwas wie das geheime Nervenzentrum von Roths Texten. Von Beginn an wirkte dieser Ort mit seinen Menschen auf Form, Figuren und Themen seiner Werke ein, seit 1976 besucht Roth ihn regelmäßig, war und ist mit vielen der oft schwierigen Künstler-Patienten befreundet. Schon sein erster Roman „die autobiographie des albert einstein“ von 1972 inszenierte die Sprache der Schizophrenie auf der Grundlage von Navratils Büchern. Eine der wichtigsten Figuren Roths, Franz Lindner aus „Landläufiger Tod“ (1984), ist dem schizophrenen Gugginger Lyriker Ernst Herbeck nachempfunden. Und in dem Roman „Das Labyrinth“ (2004) schlüpft Roths Erzähler sogar in die Rolle des Gugginger Anstaltsleiters.

Der nun im Residenz Verlag erschienene Band „Im Irrgarten der Bilder“ ist daher auch ein monumentales Dankeschön Roths an Gugging und seine Bewohner; er erscheint zu einem Zeitpunkt, da viele Vertreter der ersten Generation bereits verstorben sind. Der Band versammelt die nach 1976 entstandenen Texte Roths über die Gugginger, Einführungen, Einzelporträts und Nachrufe. Neben zahlreichen eindrucksvollen Kunstbeispielen zeigt er auch über 300 Aufnahmen des Fotografen Roth: Technisch sympathisch unambitioniert und nie voyeuristisch, wirken sie wie beiläufige Notizen. Mit großer Sensibilität machen sie hinter den Außenseitern die Menschen sichtbar, ohne sie freilich zu Künstlerheroen zu stilisieren: Oswald Tschirtner vor seinen wie Klone wirkenden „Kopffüßlern“, Johann Hauser, der in seinen Bildern den allgegenwärtigen Schrecken festhielt, wie er mit einem Fernrohr verschmitzt den Fotografen anvisiert, oder den seltsam schuldbewusst dreinschauenden Heinrich Reisenbauer, der eine höhere Mathematik der Relativität praktiziert, die ihn zum immer gleichen ausweglosen Resultat führt: 1.

Nebenbei dokumentiert „Im Irrgarten der Bilder“ auch die Verwandlung der Bewohner von Patienten zu heute international berühmten Künstlern. Gugging ist längst kein Krankenhaus mehr, sondern ein „Art/Brut Center“ für besonders talentierte psychisch Kranke, mit einem betreuten Wohntrakt, einem angeschlossenen Museum und einer Verkaufsgalerie: die Realität gewordene Utopie der Antipsychiatriebewegung. Für Gerhard Roth leben die Art brut-Künstler in einer, wenn auch oft qualvollen, besonderen Nähe zum schöpferischen Unbewussten. Der Austauschprozess mit dem Bewusstsein sei einseitiger, führe häufig zu einem Überflutetwerden.

Wer glaube, Geisteskranke seien deshalb unfähig zur Empathie, irre jedoch, so Roth. Als er einmal in Gugging der Fotografin Herline Koelbl Porträt stand und sie ihm immer neue Anweisungen gab, den Kopf so oder so zu heben, seien sie plötzlich von mehreren Bewohnern umringt gewesen. „Was wüll de Frau von Ihnen?“, habe Johann Hauser energisch gerufen – keine Frage, die Gugginger hätten ihren „Herrn Roth“ beschützt.

Titelbild

Gerhard Roth: Im Irrgarten der Bilder. Die Gugginger Künstler.
Residenz Verlag, Wien 2012.
324 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783701732722

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gerhard Roth: Portraits.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
316 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100660657

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