Viele kleine Mosaiksteine ergeben noch kein Bild

Über Luisa Rubini Messerlis Untersuchung der „Dekameron“-Rezeption in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit

Von Jochen SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Werk Giovanni Boccaccios und insbesondere dem „Dekameron“ kommt bei der Ausbreitung des Humanismus von Norditalien auf den deutschsprachigen Raum im 15. Jahrhundert eine wesentliche Bedeutung zu. Auch später verlieren sowohl Gesamtwerk als auch einzeln publizierte Novellen nicht an Popularität, sodass das „Dekameron“ zu den wirkungsmächtigsten Texten der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit zählt. An der Einzelnovelle „Griseldis“ wurde diese Wirkung bereits exemplarisch demonstriert. Luisa Rubini Messerli hat es sich in ihrer Habilitationsschrift nun zur Aufgabe gemacht, die Rezeption des „Dekameron“ in der deutschen Literatur vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zu untersuchen und ihre Geschichte neu zu schreiben.

Rubini Messerli teilt die Rezeption dabei in zwei Phasen: In einer ersten, humanistisch gelehrten Phase wurden einzelne Novellen des „Dekameron“ in ihrer lateinischen Übersetzung von deutschen Studenten aus den italienischen Universitätsstädten in das Reich transferiert, wo sie weiter verbreitet und kurz darauf auch ins Deutsche übersetzt wurden. Als Zwischenschritt zur zweiten Phase wurde das „Dekameron“ als Gesamtwerk von Arigo direkt aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt und 1476/77 und 1490 als Inkunabel verbreitet. Die Übersetzung Arigos war Voraussetzung für die nun einsetzende zweite, populär-urbane Phase, während der neue Einzelnovellen meist nur noch als Abdrucke bereits bestehender Ausgaben verbreitet wurden und ein kritischer Vergleich der Übersetzungen mit dem Original allenfalls noch als Ausnahme vorkam. Die handschriftliche Überlieferung nahm währenddessen zusehends ab.

Im Zentrum der Argumentation steht die Novelle „Guiscard und Sigismunde“, die sowohl in ihren lateinischen, als auch in ihren deutschen Übersetzungen durch eine breite Überlieferung in Handschrift und Druck gekennzeichnet ist. Daneben wird die Novelle „Cymon“ untersucht und ein neu aufgefundener Druck der „Francisca“-Novelle vorgestellt. Während die weiteren bislang von der Forschung weitestgehend ignorierten Einzelnovellen auch von Rubini Messerli marginalisiert werden, findet die „Griseldis“ höchstens am Rande Erwähnung, auch wenn die Überprüfung der Ergebnisse aufgrund der guten Forschungslage hier sicherlich möglich gewesen wäre.

Ergänzt wird die Untersuchung durch einen über 450 Seiten starken Begleitband, in dem neben neuen Editionen der drei genannten Novellen vor allem die Verzeichnung der Überlieferung beeindruckt. Leider ist die Darstellung bisweilen unübersichtlich. Außerdem wäre eine Einleitung mit den Kriterien für die Handschriften- und Druckbeschreibungen wünschenswert gewesen, die ein einheitliches Vorgehen nicht immer erkennen lassen. Stattdessen fallen die meist stark zusammengekürzten Nachweisabschnitte auf, die zahlreiche Quellen zu den Handschriften und Drucken nicht aufführen.

Im Zuge ihrer Untersuchung greift Rubini Messerli mehrere Fragestellungen auf, die ihr eigentliches Thema nur am Rande betreffen. Da diesen Exkursen mitunter sehr viel Raum gegeben wird, geraten ihr die Periodisierung der Boccaccio-Rezeption zeitweise in den Hintergrund und der rote Faden aus den Augen des Lesers. So widmet Rubini Messerli beispielsweise der zuletzt von Lorenz Böninger neu aufgeworfenen Frage nach der Identität des „Dekameron“-Übersetzers Arigo ein ganzes Kapitel, das knapp ein Drittel der gesamten Untersuchung umfasst. Vorrangig stellt sie die, zugegeben fragwürdige, Argumentation Böningers intensiv auf den Prüfstand. Die Frage nach der Rezeption des „Dekameron“ schwingt dabei stets unterschwellig mit, wird aber von der Auseinandersetzung mit Böningers Thesen deutlich überlagert. Dies führt letztendlich dazu, dass für die Untersuchung der zweiten Rezeptionsphase am Ende keine 40 Seiten mehr bleiben und eine ganze Reihe von Textzeugen unter den Tisch fallen. Zudem wird die im Titel angekündigte Rezeption im 17. Jahrhundert nicht untersucht und findet allein im zweiten Band durch die Verzeichnung der Textzeugen Aufnahme in das Werk. Gleichzeitig verharrt Rubini Messerli bei der Analyse der Textebene. Einzig bei der Untersuchung zur Verbreitung von „Guiscard und Sigismunde“ in der Übersetzung Leonardo Brunis wird den Provenienzen der Textzeugen und somit der Wirkung des „Dekameron“ auf den Leser breiten Raum gegeben. Dasselbe wäre allerdings auch für die anderen Texte wünschenswert gewesen, um die Ergebnisse und Thesen weiter zu stützen.

Einer übersichtlichen und stichhaltigen Gesamtstudie zur Boccaccio-Rezeption in der deutschen Literatur muss wohl noch eine Reihe von Einzelstudien vorangehen. Rubini Messerli liefert allenfalls im Kleinen und im Detail wichtige Ergebnisse. Dies bezieht sich nicht nur auf den Katalog, in dem einige Textzeugen erstmals ausführlich beschrieben und zahlreiche Details erstmals aufgeführt werden. Daneben stehen allerdings zahlreiche Beschreibungen, die durch thematisch verwandte Veröffentlichungen bereits bekannt sind. Auch im Untersuchungsband finden sich Abschnitte, die einzelne Bereiche der Thematik ausführlich behandeln und gut belegte Ergebnisse präsentieren. Doch auch sie wurden nicht selten bereits im Vorfeld in Form von Aufsätzen publiziert. Dass der große Wurf am Ende misslingt, liegt aber nicht nur an diesen Doppelungen und an der wenig überzeugenden Auswahl von Texten und untersuchten Textzeugen, sondern vor allem an der Missachtung des Untersuchungsrahmens. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier passagenweise lediglich einzelne Aufsätze aneinandergereiht wurden, ohne eine übergeordnete Fragestellung zu verfolgen. So bleibt die „Dekameron“-Rezeption weiterhin neu zu schreiben, auch und gerade weil Rubini Messerli zu häufig randständige Fragen erörtert, die den Blick auf die eigentliche Fragestellung versperren.

Titelbild

Luisa Rubini Messerli: Boccaccio deutsch. Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.-17.Jahrhundert).
Chloe Beihefte zum Daphnis.
Rodopi Verlag, Amsterdam – New York 2012.
980 Seiten, 100,00 EUR.
ISBN-13: 9789042035003

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