Fragiles Mächtegleichgewicht

Konrad Canis rollt in seiner Studie „Der Weg in den Abgrund“ die „Deutsche Außenpolitik 1902-1914“ neu auf

Von Uwe UllrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Ullrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Buchtitel „Der Weg in den Abgrund“ scheint Modeerscheinung in der Historikergilde geworden zu sein. Gleiche Titelung wählten Karlheinz Weißmann für seinen Propyläenband über das „Dritte Reich“ (1995) und John Röhl für den Abschlussband seiner voluminösen Kaiser-Wilhelm II.-Biografie (2008).

Inzwischen rückt der 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges heran. Was liegt also näher, dass Konrad Canis, Jahrgang 1938, bis 2001 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Otto-von-Bismarck-Stiftung sowie Mitherausgeber der Neuen Friedrichsruher Ausgabe der Bismarck-Werke, den letzten Band einer Außenpolitik-Trilogie auf den Weg zu bringen. Erschienen waren in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten bereits die Bände „Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890-1902 (Berlin 1997) und „Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung“ (Paderborn 2004). Wegweisend für seine Forschungen kann das Diktum von Fritz Fischer, dem ehemals in SA-Diensten stehenden Historiker, im Vorwort zu seinem politisch- ideologisch gern gebrauchten „Griff nach der Weltmacht“, der Deutschlands Alleinschuld am Aufbruch des Ersten Weltkrieges postulierte, dass die Schuldfrage erst dann umfassend aufgeklärt werden könne, wenn alle bedeutsamen in- und ausländischen Archive der deutschen Historiografie zugänglich sind. Seitdem ist ein halbes Jahrhundert vergangen.

Canis unterteilt sein Forschungsobjekt in acht Kapitel. In kurzweilige und themenbezogene Zeitabschnitte gegliedert, verfolgt der Historiker Deutschlands Weg und Ziel zwischen „Der Misserfolg der Freihandelspolitik 1902-1904“ über „Im Zeichen der fortschreitenden Isolation 1906-1908“ bis „Permanente Spannung im Osten 1913/14“ detailliert. Den Abschluss bilden „Ausblick und Rückblick: Die Juli-Krise 1914“. Vorzüglich wird der Band mit seinem Personen-, Quellen- und Literaturverzeichnis beendet.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges war nicht nur Ergebnis, sondern eine Zäsur und zugleich das Ende einer aufstrebenden mitteleuropäischen Hegemonialmacht, in der Deutschland nach Gleichberechtigung und Machtzuwachs inmitten der Rivalen England, Frankreich, Russland (das Osmanische Reich war bereits im Inneren zerfallen) strebte und den Vereinigten Staaten von Amerika den Aufstieg zur dominierenden Weltmacht ebnete.

In der Mitte des europäischen Kontinents herrschte über Jahrhunderte ein machtpolitisches Vakuum, da aufgrund der territorialen inneren deutschen Zersplitterung und der auswärtigen Interessenpolitik der damals häufig wechselnden dominanten europäischen Großmächte kein entscheidendes Kräftepotential dagegen halten konnte. Nach der militärischen Niederlage des französischen Kaiserreichs und mit der Reichsgründung 1871 im Spiegelsaal von Versailles setzte sich das kräftemäßig mittelständische Hegemonialkönigtum Preußen gegenüber dem Nachbarkonkurrenten, den Habsburgern, mit der kleindeutschen Lösung der deutschen Frage durch.

Eine Unruhe setzte diplomatisches Gerangel gegenüber dem neugegründeten Reich in Szene. „Bismarck hingegen bemühte sich, das Reich saturiert, als Faktor des territorialen Status quo in Europa, als Element des Friedens zu präsentieren, um die Sicherheit des Reiches zu gewährleisten, die er gefährdet fand, wenn es geostrategisch in einer europäischen Mittellage mit offenen Grenzen nach allen Seiten, sich einer feindlichen Koalition Russlands und Frankreichs ausgesetzt hätte“.

Die Jahrzehnte währende koloniale Enthaltsamkeit stieß zunehmend in interessierten Kreisen der Wirtschaft und der Öffentlichkeit auf Kritik. Hatte Russland dem unmittelbaren Nachbarn die Etablierung in Ostasien verwehrt, weigerte sich später England, dem an seine Grenzen – wirtschaftlich, demografisch, technisch- technologisch sowie gleichermaßen kulturell und wissenschaftlich – stoßende Kaiserreich weltpolitische Gleichberechtigung zuzugestehen. In den ersten unerfahrenen kolonialen Vorstößen lag noch kein Weltmachtkonzept für die neuen exterritorialen Vorstellungen vor. Das änderte sich jedoch spätestens mit dem Baubeginn der Bagdadbahn. Gehör verschafften sich jetzt Machtambitionen im außenpolitischen Wirken des Reichs auf dem internationalen Parkett und in der themengebundenen Publizistik. Mit dem demonstrativen Auf- (Seekriegsflotte) und dem Ausbau (wachsende jährliche Rekrutierungen, umfassende Modernisierung der Artillerie und Entwicklung der Panzerfahrzeuge) der stetig wachsenden Militärmacht Deutschland wurde auf die versagte Gleichberechtigung als neue Weltmacht reagiert. Die Hegemonialstaaten „versuchten es aus dem Konzert der Mächte, wie sie es prägten, schließlich auszugrenzen, wenn es den eigenen halbhegemonialen Rahmen zu behaupten oder womöglich auszuweiten suchte“. Heute sind nur noch die Vereinigten Staaten von Amerika, wenn auch global immer schwächer werdend, weltdominierende Macht.

Zu erwähnen darf nicht vergessen werden, dass entsprechend der Verfassung die Grundlinien der Außenpolitik, Reichskanzler nahmen mehr oder weniger entscheidenden Einfluss, nicht das zuständige Auswärtige Amt, sondern der Kaiser, Wilhelm II., der nie parlamentarischen Kontrollinstanzen rechenschaftspflichtig war, bestimmte. Durch Interessengegensätze war das Verhältnis, mehrmals auch nachhaltig, durch Störungen getrübt.

Während die bürgerlichen Parteien, – dem Zeitgeist entsprechend dem Sozialdarwinismus, der Hegel’schen Machtstaatpolitik verpflichtet und dem Aufkommen völkischer Ideen (sie und der Einfluss des Alldeutschen Verbandes dürfen nicht überbewertet werden) keineswegs abhold –, ihre Kritik an der Außenpolitik begrenzt hielten, betrieb die erstarkende Sozialdemokratie ungehemmt Fundamentalopposition. Vom Ziel einer gewaltsamen Revolution zum Sturz des Kapitalismus abgekommen, hielten sie den Weg der Reform für gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse jetzt für möglich.

Fazit: „Deutschlands Stellung in der Mächtekonstellation von 1914 hatte sich gegenüber der eingangs untersuchten von 1902 völlig gewandelt. Damals befand sich das Reich einer nur zum Teil gebundenen Gruppe von rivalisierenden Großmächten gegenüber. Inzwischen hatte sich diese Gruppe zu einem festeren Gefüge verdichtet“. Schnell war das Kaiserreich zum Hauptkonkurrenten in Europa und an den Meerengen aufgestiegen. Faktisch blieb es, da Österreich- Ungarn gegen die Balkanstaaten gebunden war, gegen Frankreich im Osten und Russland im Osten auf sich allein gestellt. Mit kriegerischem Einstieg und Reaktion wurde das fragile Mächtegleichgewicht zerstört und setzte dem rasanten Aufstieg und der puren Existenz des Deutschen Kaiserreiches ein Ende.

Die Darstellung ist ereignisgeschichtlich angelegt und operiert mit strukturellen Gesichtspunkten, wenn es um die Erklärung außenpolitischer Erscheinungen geht. Herangezogen wurden vom Wissenschaftler die umfangreichen Editionen zur Außenpolitik der damals agierenden Kontrahenten Belgien, Frankreich, Großbritannien, Österreich- Ungarn und Russland. Weiterhin sind veröffentlichte Briefe, Tagebücher und Memoiren von Politikern und Diplomaten einbezogen worden. Die in großem Umfang ungedruckten Aktenbestände aus Berliner, Dresdner, Münchner und Wiener Archiven sowie zahlreiche Nachlässe wurden gesichtet und ausgewertet. Umfangreiche Protokolle der Reichstagsdebatten, Aufsätze, Reden, repräsentative Zeitungen und Zeitschriften fanden ebenso Eingang in die Darstellung wie selbständige Schriften von Historikern, Intellektuellen, Politikern und Publizisten.

Wer sich sachkundig über die deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts informieren möchte, sollte zu diesem Buch greifen. Es bildet die detaillierte Grundlage für geschichtliches Verständnis der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur und den deutschen, europäischen wie globalen Entwicklungen auf allen Gebieten des ökonomisch bestimmten menschlichen Zusammenlebens. Die Canis’sche Trilogie in all ihren Facetten verdient nicht nur bei Studierenden, sondern gleichfalls bei geschichtlich interessierten Laien zur empfohlenen Standardliteratur zu gehören.

Titelbild

Konrad Canis: Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902-1914.
Schöningh Verlag, Paderborn 2011.
719 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-13: 9783506771209

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