Genuss und Gewalt im Roman „Die Schnapsstadt“ von Mo Yan

Parallelen zum Erzählwerk von Lu Xun, dem Vater der modernen chinesischen Literatur, lassen die Qualitäten der kritischen Auseinandersetzung des Literaturnobelpreisträgers mit dem modernen China deutlicher erkennen

Von Dorothea WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Wippermann

Vorbemerkung der Redaktion: Als während der Frankfurter Buchmesse bekannt wurde, dass der chinesische Schriftsteller Mo Yan 2012 den Literaturnobelpreis erhält, war die in Frankfurt lehrende Professorin für Sinologie Dorothea Wippermann eine der ersten Fachkundigen, die dazu befragt wurden. In ihrem Gespräch mit der „Deutschen Welle“ hob sie Mo Yans Roman „Die Schnapsstadt“ (dt. 2002) hervor, unter den ebenfalls ins Deutsche übersetzten Romanen „Das rote Kornfeld“ (dt. 1993), „Die Knoblauchrevolte“ (dt. 1997), „Der Überdruss“ und „Die Sandelholzstrafe“ (dt., beide 2009) hierzulande einer seiner bekanntesten. Von ihm handelt der folgende Beitrag.

Der im Jahr 1992 erstmals (in Taiwan) veröffentlichte Roman „Jiuguo“ („Die Schnapsstadt“) handelt von einer modernen chinesischen Stadt, die anscheinend auf keiner chinesischen Landkarte zu finden ist. Mit zwei Millionen Einwohnern ist es eine für chinesische Verhältnisse nur mittelgroße Stadt, wie es sie zu hunderten im realen China gibt, und so erleben wir hier einen städtischen Mikrokosmos, der die Verhältnisse des modernen China seit der Reformperiode in der Zeit um 1989 repräsentiert mit seinem Wirtschaftswachstum und steigendem Wohlstand, mit seinen Fortschritten in Technik, Wissenschaft und Bildungswesen, seiner Betriebsamkeit und seinem Drang nach Unterhaltung und Genuss.

Die berühmteste Spezialität der Stadt ist der Schnaps, der ihr den Namen gab. Der Leser betritt und erlebt diese Stadt aus der Perspektive des Sonderermittlers Ding Gou’er von der Oberstaatsanwaltschaft, der zu Ermittlungen in diese Stadt geschickt wird und Gerüchten über ungeheuerliche und skandalöse Verbrechen nachgehen soll. Bei seinen Recherchen vor Ort macht Ding Gou’er Bekanntschaften mit Persönlichkeiten der Stadt, deren Gastfreundschaft mit exzessiven Trinkgelagen Betrunkenheit, Wahrnehmungsverzerrungen und Erinnerungslücken des Ermittlers nach sich ziehen, wodurch teilweise auch der Leser über das genaue Erzählgeschehen im Unklaren gelassen wird und ihm die Unterscheidung zwischen Vorgängen der Erzählhandlung und des Bewusstseins der Perspektivfigur Ding Gou’er schwer gemacht wird.

Die Kapitel, in denen der Leser zusammen mit dem Ermittler Ding Gou’er immer tiefer in Abgründigkeiten und Labyrinthe einer maßlosen Trinkkultur und irritierend übersteigerten Genusskultur hineingerät, wechseln sich ab mit Kapiteln, in denen parallel dazu mit ganz anderen literarischen Mitteln die Welt der Schnapsstadt entfaltet wird: Es ist der Briefwechsel von Li Yidou, einem Doktoranden der Alkoholkunde der berühmten Brauereifachschule der Schnapsstadt, mit dem prominenten chinesischen Autor Mo Yan. Li hat seine Liebe zur Literatur entdeckt und möchte eigentlich Schriftsteller werden. Er erhofft sich von Mo Yan Ratschläge und Protektion. Über die Schnapsstadt schreibt er in seinen Briefen und vor allem in seinen Kurzgeschichten, die er seinen Briefen an Mo Yan zur Kommentierung und Weiterleitung an Verlage beilegt. Gegen Ende des Romans wird geschildert, wie der Autor Mo Yan der Einladung des Doktoranden der Alkoholkunde folgt und selbst in der Schnapsstadt eintrifft, so dass die beiden getrennten Darstellungsebenen schließlich in der Erzählhandlung zusammengeführt werden.

Diese sehr moderne und kreative erzähltechnische Anlage des Romans bietet für sich genommen schon großen Lesegenuss. Das Spielen mit diversen fiktionalen Ebenen, die selbstironische Art, wie das literarische Schaffen thematisiert wird, die Bezüge und Spannungen zwischen Fiktion und Realität, die vielfältigen Elemente des magischen Realismus, Anknüpfungen an Mythen und Traditionen – das alles macht den Roman, dessen formale und inhaltliche Strukturen bei aller Komplexität für den anspruchsvollen und gebildeten Leser immer noch gut erfassbar und nachvollziehbar bleiben, zu einer literarischen Delikatesse von hohem Reiz, jedenfalls im Hinblick auf die Kreativität der formalen Anlage sowie die sprachlich-stilistische Brillanz des Textes. Inhaltlich wird dem Leser allerdings – wie im Folgenden noch deutlich wird – eher schwere beziehungsweise schwer verdauliche Kost zugemutet, von der ihm mancher Bissen schon im Halse stecken bleibt.

Bevor wir uns den vielen kulinarischen Genüssen der Schnapsstadt zuwenden, verweilen wir noch einmal beim Schnaps, der in Jiuguo nicht nur begeistert und exzessiv konsumiert wird, sondern dessen Herstellung auch an der Brauereihochschule akribisch und auf Hightech-Niveau erforscht, perfektioniert und gelehrt wird. Der Doktorand der Alkoholkunde zählt sich selbst zu den hundert besten Experten für Alkohol auf der ganzen Welt. Und gerade deshalb fühlt er sich zur Literatur berufen und seelenverwandt mit dem berühmtesten chinesischen Dichter Li Bai (701-762) der Tang-Zeit (618-907), der höchsten Blütezeit chinesischer Lyrik. Mit ihm teilt Li Yidou nicht nur den Nachnamen, sondern die Liebe zum Alkohol – jeder Chinese kennt ja Li Bais melancholische Gedichte über das Trinken. „Schnaps war die Muse des großen Dichters Li Bai“, schreibt der Doktorand Li Yidou, und „Alkohol ist mein Leben, meine Seele …. Guter Schnaps strömt aus meinem [Schreib-]Pinsel“. Und in seinem ersten Brief an seinen Lehrmeister, den berühmten Autor Mo Yan, schreibt er: „Was ich am meisten an Ihnen bewundere, ist der Geist wie der des Weingottes, der so viel trinken kann, wie er will, und dennoch nie betrunken ist. Ich habe einen Ihrer Aufsätze gelesen, in dem Sie behaupten: ‚Schnaps ist Literatur‘, und ‚Menschen, die nichts von Schnaps verstehen, sollten auch nicht über Literatur reden‘. Diese erfrischenden Worte haben meinen Kopf mit Weisheit erfüllt und alle Hindernisse auf dem Weg zur Erkenntnis ausgeräumt.“

Der Ermittler Ding Gou’er macht schon am Tag seiner Ankunft drastische Bekanntschaft mit den Trinksitten der Schnapsstadt. Seine Recherchen zur Aufklärung der Wahrheit über dort vermutete Verbrechen führen ihn als erstes in das lokale Bergwerk, wo er vom Zechendirektor und Parteisekretär dieses großen staatlichen Unternehmens empfangen wird. Obwohl er einen klaren Kopf behalten will, um seinen dienstlichen Auftrag der Wahrheitsfindung zu erfüllen, und angebotenen Alkohol ablehnt, wird er unter Berufung auf Gastfreundschaft dort zum Trinken genötigt, und es gelingt ihm nicht, sich den betörenden Reizen des duftenden Alkohols entziehen, so dass er im Laufe des Abends hunderte gefüllte Schalen leert.

Es liegt auf der Hand, dass der Alkohol in diesem Text – wie wohl überhaupt häufig in der Literatur – ein Motiv darstellt, welches eine zentrale Funktion in der literarischen Auseinandersetzung mit Fragen der Erkenntnis und Realitätswahrnehmung ausübt. Alkohol führt zu Bewusstseinstrübungen und Wahrnehmungsverzerrungen, er kann Größenwahn auslösen und die Fähigkeit zur kritischen Selbstwahrnehmung und Erkenntnis eigener Schwächen beeinträchtigen. In dem vom Doktoranden für Alkoholkunde verfassten Text „Die Schnapsstadt“ (eine Ich-Erzählung des „Leiters der Werbeabteilung“) wird Jiuguo als die schönste Stadt der Welt bezeichnet, die Geschäftsleute und Touristen aus allen Gegenden Chinas und der Welt anzieht, eine Stadt der Superlative, insbesondere was die nationale und internationale Überlegenheit ihrer Trinkkultur und alkoholischen Produkte betrifft, welche hier bereits eine Tradition seit den frühesten Dynastien der chinesischen Geschichte aufweisen und mit den Namen der bekanntesten historischen Persönlichkeiten Chinas verknüpft sind.

Vieles in dem Roman erinnert an den Schriftsteller Lu Xun, den sogenannten Vater der modernen chinesischen Literatur. Lu Xun hat in seinen weltberühmten und in China bei jedem Schulkind bekannten Kurzgeschichten aus den Jahren 1918 bis Ende der 1920er-Jahre die Neigung zum Größenwahn und Selbstbetrug in der chinesischen Gesellschaft und Kultur angeprangert. Er kritisierte die Gewohnheit seiner Landsleute, die chinesische Kultur als moralisch überlegen und somit als nicht reformbedürftig anzusehen, und forderte, die faktische Schwäche und Unterlegenheit Chinas, das im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Opfer imperialistischer Aggression geworden war, einzugestehen und sich durch Überwindung innerer politischer und sozialer Missstände sowie durch Abschaffung schädlicher Traditionen zu einer starken und modernen Nation zu entwickeln. Repräsentant für diesen vermeintlichen Nationalcharakter der Chinesen, wie Lu Xun ihn anprangerte, ist Lu Xuns berühmte literarische Figur A Q, ein Tagelöhner am untersten Rande einer dörflichen Gemeinschaft, einerseits Opfer von Ausbeutung und Drangsalierung durch Grundbesitzer und Dorfbevölkerung, andererseits ein Meister im Erringen moralischer Siege durch Selbstbetrug. Egal wie oft er verprügelt und seiner Habe beraubt wurde oder auf andere Weise den Kürzeren zog, er fühlte sich in seiner Naivität immer als moralischer Sieger, als der moralisch und geistig Überlegene; es ist kein Zufall, dass dies besonders nach Kneipenbesuchen und in berauschtem Zustand der Fall war. Auch eine andere berühmte literarische Figur von Lu Xun, der heruntergekommene Gelehrte, Kalligraph, Bücherdieb und schließlich Krüppel Kong Yiji, wird dem Leser ausschließlich in der Kneipe präsentiert. Auch er wehrt sich beim Schnapsgenuss mit Überlegenheitsposen gegen die Erkenntnis der eigenen Erbärmlichkeit und des Bedeutungsverlusts der klassischen chinesischen Bildungstraditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und selbst die modernen, westlich gebildeten und fortschrittlich gesinnten Intellektuellen der damaligen Zeit treten in Lu Xuns Kurzgeschichten als halbherzige und selbstmitleidige Protagonisten auf, die wie zum Beispiel in der Erzählung „In einer Weinschenke“ ihre eigene Unzulänglichkeit und gesellschaftliche Missstände zwar bejammern, sich aber zugleich mit Alkohol betäuben und ihre Erkenntnisse nicht in tatkräftigen Einsatz für die Reform der ungerechten gesellschaftlichen Zustände ummünzen.

Motive und Themen von Lu Xun gehören in China bis heute zum Allgemeinwissen, sie werden in der Gegenwartsliteratur laufend aufgegriffen, und auch bei Mo Yans Roman über die Schnapsstadt handelt es sich nicht um zufällige oder willkürlich hineininterpretierte Parallelen. Schon in seinem ersten Brief an den Gegenwartsschriftsteller Mo Yan erwähnt der Doktorand der Alkoholkunde „den großen Schriftsteller“ Lu Xun explizit, und es folgen weitere Verweise im ganzen Buch.

Dass der Schnaps in diesem Roman nicht nur als eine lokale Spezialität der Schnapsstadt und Genussmittel fungiert, sondern damit auf den Geist des A Q, nämlich die vermeintlich in ganz China verbreitete Neigung zum Selbstbetrug und Selbstbetäubung, zu Wahrnehmungsverzerrungen und zur Verweigerung der Anerkennung von Realität und realen Missständen in China insgesamt verwiesen werden soll, lässt sich an diversen Textstellen des Romans belegen, etwa wenn der berühmte Autor Mo Yan in einem Antwortbrief an Li Yidou schreibt: „Wenn ich Doktorand der Alkoholkunde wäre, würde ich meine Zeit wahrscheinlich nicht darauf verschwenden, Romane zu verfassen. In China, einem Land, das nach Alkohol duftet, kann es da ein Unternehmen mit besseren Zukunftsaussichten und dem Versprechen größeren Erfolgs geben als das Studium des Alkohols?“

Und der führende Repräsentant der Schnapsstadt, nämlich Jin Gangzuan, „der Stellvertretende Abteilungsleiter in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Parteikomitee von Jiuguo“, der an der Brauereihochschule eine Gastprofessur erhält, sagt in seiner ersten Vorlesung: „Mein Verhältnis zum Alkohol ist vierzig Jahre alt. Vor vierzig Jahren wurde unsere Volksrepublik gegründet. Was für ein Monat der Freude für uns alle! Das war die Zeit, als ich gerade begann, im Uterus meiner Mutter Wurzeln zu schlagen. Soweit ich weiß, taten meine Eltern … nichts anderes als alle anderen: Sie taten es verzaubert, hingerissen und verwirrt bis an die Grenzen des Wahnsinns. … Also bin ich ein Produkt … der Ekstase. Kommilitonen! Wir alle kennen den Zusammenhang zwischen Ekstase und Alkohol!“

Auch der chinesische Romantitel selbst offenbart, dass es hier nicht nur um eine einzelne Stadt geht. Die deutsche Übersetzung titelt zwar „Die Schnapsstadt“ und der Ort der Handlung ist eine typisch chinesische Zwei-Millionen-Stadt, aber das chinesische Wort Jiuguo bedeutet wörtlich „Schnapsland“ oder „Schnapsstaat“, und so ist auch die Übersetzung des Titels der englischen Übersetzung treffender, nämlich „Republic of Wine“. Das chinesische Wort für China, Zhongguo, wörtlich „Reich der Mitte“, klingt sogar recht ähnlich wie Jiuguo, das sich entsprechend auch mit „Reich des Weines“ oder „Reich des Schnapses“ übersetzen ließe.

Der bereits erwähnte „Stellvertretende Abteilungsleiter in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Parteikomitee von Jiuguo“, Jin Gangzuan, bekam das zusätzliche Amt als Gastprofessor an der Brauereihochschule, weil er der trinkfesteste Trinker der Stadt ist, der selbst Brennspiritus trinken kann, ohne zu erblinden. Seine „überlegene Fähigkeit, Alkohol abzubauen“, also so viel Alkohol zu trinken, wie er will, ohne sich zu betrinken, erklärt er selbst den Studenten nicht nur als natürliche Begabung, sondern als Erfolg harten Trainings und einer bewusst kultivierten Technik – ganz in der Tradition klassischer Kunstperfektionierung durch Selbstkultivierung und unermüdliche Übung und Disziplin.

Wenn nun dieser Roman an Lu Xuns Thematik der kollektiven Selbsttäuschung der Chinesen angeknüpft, an die Neigung, sich an der glorreichen kulturellen und zivilisatorischen Tradition zu berauschen und dabei die realen Schwächen, Missstände und vor allem ungerechte soziale Verhältnisse zu verdrängen, so lässt sich der Roman so verstehen, dass hier die Errungenschaften der chinesischen Kultur und Tradition, auf die man sich laufend stolz beruft, am Beispiel extremer Verfeinerung und höchster Raffinesse der Trink- und Esskultur repräsentiert sind, wobei die hohe Kunst traditioneller Herstellungsverfahren noch durch moderne Wissenschaft und Forschung zusätzlich optimiert wird. Es muss nicht betont werden, dass diese fiktionale Reduzierung einer Hochkultur auf kulinarische Errungenschaften per se eine beißend satirische Demontage bedeutet.

So ist dieser Roman einerseits ein Sittengemälde, bei dem Kochkunst, Trinkgelage, Bankette, Restaurants und Zusammenkünfte hochrangiger Kenner und Genießer im Vordergrund stehen, andererseits aber begegnet der Leser quasi zwischen den Zeilen auch unzähligen Verweisen auf weniger erfreuliche Realitäten.

Dass der Sonderermittler Ding Gou’er seine Recherchen im lokalen Bergwerk beginnt, kann kein Zufall sein, wenn man bedenkt, dass schon zu Lu Xuns Zeiten grausame Verhältnisse in chinesischen Bergwerken literarisch thematisiert wurden und dass auch in der Gegenwart Chinas Bergwerke in chinesischen wie ausländischen Medien vor allem wegen mangelndem Arbeitsschutz, Grubenunglücken, ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen und moderner Sklaverei präsent sind.

Einige ausgewählte Passagen über die allgegenwärtigen kulinarischen Spezialitäten der Schnapsstadt können das verdeutlichen. In den ländlichen Außenbezirken zwischen Bergwerk und Stadt trifft der Sonderermittler schon bei seiner Ankunft auf Schritt und Tritt auf Beispiele der Beschaffung und Herstellung der Köstlichkeiten für hohe Persönlichkeiten. Nicht weit vom Bergwerk wird er Zeuge eines Unfalls mit einem Maultiergespann, bei dem einem Maultier ein Huf abgetrennt wird. In der Menge der Gaffer, die sich sofort einfinden, um dieses Schauspiel anzusehen (auch das abgestumpfte und mitleidlose Begaffen von Unglücks- oder Hinrichtungsopfern ist eine typisches Motiv von Lu Xun), tönt es beim Anblick von zwei sofort eingetroffenen „Frauen mit geisterhaft weißen Gesichtern … und fleckenlosen weißen Uniformen“: „Die Tierärztinnen sind da!“ Aber „schnell erklärten die weißen Frauen: ‚Wir sind keine Tierärztinnen. Wir arbeiten als Köchinnen im Gästehaus. Morgen kommt eine Delegation der Stadtverwaltung, um die Zeche zu besichtigen, und der Bergwerkdirektor hat angeordnet, sie als besonders wichtige Gäste zu behandeln. Huhn und Fisch, sonst haben wir nichts Besonderes zu bieten. … Und da haben wir gehört, dass ein Maultier einen Huf verloren hat.’ – ‚Gedünstete Maultierhufe, Maultierhufe in Hühnerbrühe.’ – ‚Komm schon, Mann, verkauf ihnen den Huf.’ – ,Nein, nein, ich kann nicht…’ Der Mann klammerte sich an den Huf. Der Ausdruck liebevoller Besorgnis stand in seinem Gesicht, als hielte er die abgeschlagene Hand einer Geliebten in der seinen.“

Ding Gou’er und die gaffende Menge werden schließlich Zeuge, wie eine der Köchinnen ein Beil in die Hand nimmt, mit meisterhafter Geschicklichkeit dem Maultier auch die restlichen Hufe abtrennt und das Tier dann liegen lässt.

In seiner Erzählung „Eselsgasse“ schildert der Doktorand der Alkoholkunde enthusiastisch eine Spezialitätenstraße, die allerdings nur eine unter vielen der Schnapsstadt ist, wo es auch noch die Hirschgasse, die Rinder-, Schafs-, Schweine-, Pferde-, Katzengasse gibt und viele andere mehr. „Die Eselsgasse ist einen Kilometer lang und auf beiden Seiten gesäumt von Metzgerläden. […] Über Hunderte von Jahren hinweg sind hier in der Eselsgasse zahllose Esel geschlachtet worden. Man kann ohne weiteres sagen, dass Tag und Nacht Schwärme von Geistereseln über die Eselsgasse traben oder dass jeder Pflaster­stein … mit Eselsblut bedeckt ist … oder dass auf jeder Toilette… die Seelen toter Esel weiterleben….“

Und dann erlebt der Leser ein Eselsbankett: „Als erstes werden allerlei kalte Vorspeisen serviert“, angeordnet „in Form einer Lotosblüte auf einer Platte“: „Eselsmagen, Eselsleber, Eselsherz, Eselsdarm, Eselslunge, Eselszunge und Eselslippen…“. Als Hauptspeisen folgen: „Gedämpftes Eselshirn“, „Glasierte Eselsaugen“, „Eselsrippen in Wein“, „Gepökelte Esels­zunge“, „Gedünstete Eselssehnen“, „Eselshals mit Birnen und Lotoswurzeln“, „Eselsschwanz als goldene Peitsche“, „Gedämpfte und gebratene Eselsdärme“, „Geschmorte Eselshufe mit Seegurken“, „Eselsleber mit fünf Gewürzen“. Die besten Gerichte sind „Der schwarze Drache spielt mit den Perlen“ aus „einem Eselspimmel und zwei Eselsaugen“ und „Drache und Phönix glücklich vereint“ aus einem männlichen und weiblichen Eselsgeschlechtsteil. Das alles zählt zu den Gerichten, „auf die Jiuguo zu Recht stolz ist“. Und der Doktorand der Alkoholkunde schreibt: „Alle diese Dinge sind stilistisch, historisch, traditionell, ideologisch, kulturell und moralisch einmalig. … In dem zügellosen Streben nach Reichtum, das unsere ganze Nation erfasst hat, haben unsere Führer hier in Jiuguo eine einzigartige Vision, eine bahnbrechende Inspiration, einen noch nie da gewesenen Plan entwickelt, um uns auf den Weg zum Wohlstand zu bringen. … Sie werden mir zustimmen, dass nichts auf der Welt so wichtig ist wie Essen und Trinken … Lasst sie [unsere Besucher] erkennen, dass Essen und Trinken … im Prozess der geistigen Formung und ästhetischen Bildung eine wichtige Rolle spielen.“

Es wird an solchen Beispielen deutlich, wie verflochten in den bewundernden und verherrlichenden, geradezu euphorischen Darstellungen der Kochkunst quasi beiläufig und in emotionslosem Erzählduktus (damit aber umso schockierender) entlarvt wird, dass alle raffinierten Köstlichkeiten und die kulinarische Verfeinerung ihre dunklen Seiten haben, sie gründen auf brutaler Grausamkeit gegen Tiere und Natur, und offenbar auch auf den Mühen, dem Leid und den Opfern von Menschen der unteren Gesellschaftsschichten, während der Genuss der Oberklasse und den Funktionären vorbehalten bleibt. Der Roman bezieht sich in  solchen Zusammenhängen auch auf Lu Xuns zentrales Motiv des Kannibalismus. Der Grund, warum der Sonderermittler Ding in die Schnapsstadt geschickt wird, sind nämlich Gerüchte über das Verspeisen von Kindern bei den Banketten der führenden Persönlichkeiten der Stadt, bei denen eine anerkannte Persönlichkeit der Schnapsstadt, nämlich Jin Gangzuan, „der Stellvertretende Abteilungsleiter in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit im Parteikomitee von Jiuguo“, der Hauptverantwortliche sein soll.

Und so wird bei dem ersten Trinkgelage, zu dem der Sondermittler Ding beim ersten Besuch im Bergwerk genötigt wird, auch ein Bankett veranstaltet. Abteilungsleiter Jin tritt dabei als prominenter Gastgeber auf, und er lässt den wichtigsten Gang zuletzt auftragen: „Dann betraten zwei rotuniformierte Kellnerinnen den Saal und trugen ein großes rundes Tablett hinein, auf dem ein goldbrauner unglaublich appetitlich duftender kleiner Junge saß.“

Sonderermittler Ding ist entsetzt, er glaubt, die Verdächtigen schon entlarvt zu haben, und bedroht sie mit seiner Pistole. Doch Abteilungsleiter Jin erklärt: Der Junge wirke zwar „echt“, sei aber eine meisterliche Imitation, die sich außergewöhnlich begabten Kochkünstlern verdanke. „Das ist der eine Arm des Jungen … Er besteht aus einer fetten Lotoswurzel…, die mit sechzehn verschiedenen Kräutern … zubereitet wurde. Das Bein hier ist in Wirklichkeit eine Schinkenwurst. Der Körper … besteht aus dem eingelegten Fleisch einer Milchsau….ich bin autorisiert zu sagen, dass dieses Gericht auf legale, humane und menschenwürdige Weise hergestellt wird.“ Sonderermittler Ding, der bereits unzählige Schalen Schnaps getrunken hat, bleibt allerdings unsicher, ob er den Erklärungen glauben soll.

Die Unsicherheit, ob die Menschenfresserei nun Realität oder Einbildung ist, überträgt sich auch auf den Leser, der zusätzlich in der vom Doktoranden für Alkoholkunde verfassten Kurzgeschichte „Fleischkind“ eine fiktive, aber doch höchst realistisch wirkende Schilderung der Praktiken der Kinderaufzucht für den Fleischverzehr erhält: In einem ärmlichen Dorf in der Umgebung der Schnapsstadt, wo der Alkoholdunst über den Dächern schwebt, werden in elenden Bauernfamilien unter großen Mühen und Opfern fette Babies herangezogen, die, wenn sie gerade laufen können, von den Eltern zur Abteilung für Sondereinkäufe der Akademie für Kochkunst der Schnapsstadt gebracht werden. Die Eltern sind erleichtert, wenn nach stundenlangem Schlangestehen ihr Kind an die Reihe der Fleischbeschau kommt und in die Handelsklasse 1 eingestuft wird. Und wenn die Kunst der Zubereitung der Fleischkinder in einer Kochstunde der Feinschmeckerabteilung der Brauereihochschule demonstriert wird – von der führenden Spezialistin, der Schwiegermutter des Doktoranden für Alkoholkunde – so erfolgt dies ebenfalls äußerst realistisch anmutend in einer der (fiktiven) Erzählungen des Doktoranden („Die Kochstunde“).

Auch Lu Xun hat das Motiv der Menschenfresserei im Spannungsfeld zwischen Realität und Einbildung präsentiert, nämlich in der berühmten Erzählung „Tagebuch eines Verrückten“, in dem der „Verrückte“ seine Wahrnehmungen und Beobachtungen der Menschenfresserei nicht nur zwischen den Zeilen der konfuzianischen Klassiker über Moral und Gerechtigkeit, sondern auch in der weiteren und näheren Umgebung, in seinem Dorf und in seiner eigenen Familie aufzeichnet. Wie der Sonderermittler Ding befürchtet er, dass er selbst auch schon Menschenfleisch gegessen hat, nämlich als am Tage des Begräbnisses seiner verstorbenen kleinen Schwester vermeintlich ihr Fleisch auf dem Mittagstisch serviert wurde.  Die letzten Zeilen des Tagebuchs sind ein Appell des Verrückten an die Gesellschaft, der Menschenfresserei abzuschwören, und seine Hoffnung liegt bei den Kindern, denn das Tagebuch endet mit den Worten: „Rettet die Kinder.“

Die herausragende Stellung, die Lu Xun in der Volksrepublik China in der gesamten Mao-Zeit und auch bis heute noch innehat, ist nicht nur seinen tatsächlichen herausragenden schriftstellerischen Qualitäten zuzuschreiben, sondern vor allem der großen Wertschätzung von Mao Zedong. Mao hat Lu Xun in seinen berühmten Reden über Literatur und Kunst von 1942  als heldenhaften Vorreiter der revolutionären Literatur gepriesen und ihn für die Sache des Sozialismus und Kommunismus vereinnahmt. Mit diesen Reden über Literatur und Kunst wollte Mao aber tatsächlich die Kritik von Schriftstellern und Autoren in den damals von den Kommunisten kontrollierten Gebieten Chinas an den dort bereits aufgetretenen Missständen des „realen Sozialismus“ unterbinden. Und bei seinen Elogen auf Lu Xun betonte er, dass die beißende Ironie und polemische Schärfe in Lu Xuns Gesellschaftskritik nur gegenüber der Gesellschaft des feudalen und republikanischen China unter Herrschaft der kaiserlichen Qing-Dynastie, der Warlords und der Nationalpartei, also gegenüber dem Klassenfeind, angemessen gewesen sei. Im befreiten und sozialistischen China sei dies nicht mehr zu rechtfertigen, sondern die Intellektuellen sollten die neue Gesellschaft unterstützen und positive Erscheinungen und Tendenzen darstellen. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die hohe Wertschätzung Lu Xuns in der gesamten Mao-Zeit nur möglich war, weil Lu Xun bereits vor Maos Reden über Literatur und Kunst von 1942, nämlich im Jahre 1936, verstorben ist.

Lu Xuns Texte sind höchst pessimistisch, was die Reformfähigkeit und Verbesserung der Verhältnisse Chinas betrifft. In der „Wahren Geschichte des A Q“ (Lu 1983a: 106-175) wird geschildert, wie nach dem Umsturz der Qing-Dynastie und der Gründung der Republik (1911/1912) die lokalen Machthaber, Grundbesitzer und Verwaltungsbeamte die gleichen bleiben wie zuvor, ebenso die Verhältnisse in den chinesischen Dörfern. Im „Tagebuch des Verrückten“ erfährt der Leser schon im fiktiven Herausgebervorwort, der in klassischem Chinesisch gehaltenen Rahmenerzählung, dass die Verrücktheit nur eine vorübergehende Krankheit war, der Betroffene längst genesen sei und seine Beamtentätigkeit im Staatsapparat wieder aufgenommen habe. Die Einsicht in den menschenfressenden Charakter der chinesischen Gesellschaft und Kultur war also nur im Zustand der Verrücktheit möglich und somit von fraglichem Realitätsgehalt zwischen den beiden fiktiven Ebenen des Herausgebervorworts und des Tagebuchs.

Wenn nun Mo Yan als ein Autor des gegenwärtigen China auch in einer modernen Stadt in der Zeit der Reformperiode die Menschen- und Kinderfresserei beschreibt, und dabei wie Lu Xun das Mittel des Spielens mit verzerrter Realitätswahrnehmung, mit unterschiedlichen Erzählebenen und mit der literarischen Thematisierung von Fiktionalität einsetzt, so ist das von hoher Brisanz.

Der Optimismus von Mao, dass in den kommunistisch „befreiten“ Gebieten von 1942 und im sozialistischen China der Kannibalismus à la Lu Xun überwunden gewesen sei, scheint in extrem ironischer und beißend polemischer Weise in Mo Yans „Schnapsstadt“ widerlegt, und der Pessimismus Lu Xuns bezüglich der Reformfähigkeit Chinas erfährt in diesem Text zusammen mit dem Kannibalismus eine schockierende Auferstehung, und zwar im Jahr der Erzählzeit 1989, nicht nur dem 40. Gründungsjahr der VR China, sondern auch genau in dem Jahr, als das „Tiananmen-Massaker“ zur Niederschlagung der studentischen Demokratiebewegung stattfand.

Alle diese Bezüge, böse Ironie und satirische Kritik werden in Mo Yans Roman noch dadurch verstärkt, dass der führende Kinderfresser, Abteilungsleiter Jin, auch zu den führenden Persönlichkeiten von Partei und Verwaltung der Schnapsstadt gehört. Er ist zwar einerseits „nur“ Stellvertretender Abteilungsleiter der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Partei, andererseits aber scheint er der eigentliche „Führer“ der Stadt und des „Reichs des Schnapses“ zu sein, und so wird in der Erzählung „Alkohol“ des Doktoranden für Alkoholkunde der Abteilungsleiter Jin auf eine Weise glorifiziert, die man ansonsten nur aus dem Mao-Persönlichkeitskult kennt (zu dem u. a. auch die Etablierung von Maos Heimatdorf Shaoshan als heilige Pilgerstätte der Revolution gehörte):

„Neunhundert Studenten und Studentinnen der Brauereihochschule von Jiuguo saßen … zu einem einzigen Körper vereint … im Hörsaal [beim Vortrag von Jin Gangzuan]: eine Milchstraße kleiner Sternchen, die einen Superstar bewundern…. […] Der Glorienschein der Wahrheit erleuchtete uns, und wir brachen in tosenden Beifall aus. […] Eines Tages werden wir im VW Santana des stellvertretenden Abteilungsleiters einen Ausflug zu den heiligen Orten und Gedenkstätten seiner Jugend machen. Jede Bergeshöhe, jeder Fluss und jeder See, jeder Grashalm und jeder Baum wird unsere Verehrung für den Stellvertretenden Abteilungsleiter Jin Gangzuan ins Unermessliche steigern.“

Da erstaunt dann auch das Detail einer Parallele nicht, die zum Abschluss hier noch erwähnt sei: Der kinderfressende Gourmet und Abteilungsleiter Jin hatte ursprünglich Kinder unterrichtet und war früher Lehrer an der Grundschule des Bergwerks der Schnapsstadt gewesen. Mao Zedong war bekanntermaßen Absolvent eines Lehrerseminars der Provinzhauptstadt Changsha in Hunan … Bei allen Parallelen unterscheiden sich natürlich die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die in den Texten von Lu Xun und Mo Yans „Jiuguo“ beschrieben werden, in vielen Aspekten. Das China der Reformperiode zeigt sich auch in der Stadt Jiuguo selbstbewusst, modernisiert und gestärkt – mit ausgeprägtem Fortschrittsglauben. Bildung und Wissenschaft haben ein hohes Niveau erreicht, die wirtschaftliche Entwicklung hat Vorteile für viele gebracht, und es besteht Hoffnung, dass der „kleine Wohlstand“ über den „mittleren“ zum „großen Wohlstand“ führt. In dem Roman „Jiuguo“ wird nun dargestellt, dass das von Lu Xun kritisierte Bedürfnis, die nationale und kulturelle Größe (Überlegenheit?) zu beschwören, auch im Zeitalter von Modernisierung und Globalisierung Chinas fortlebt, und dass kulturelle Traditionen und Errungenschaften wie die in China so hochgeschätzte Trink- und Esskultur auch und gerade im Zuge von Modernisierung, Verwissenschaftlichung und Kommerzialisierung mit einer exzessiven Verfeinerung und übersteigerten Genusssucht immer wieder neue Ausmaße von Barbarei erreichen. Somit lässt sich der Text auch als generelle kultur- und gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit Entwicklungen und Phänomenen der modernen, insbesondere städtischen Gesellschaft deuten, an denen Menschen aller Schichten und Kreise beteiligt sind.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung eines Aufsatzes, der komplett unter dem Titel „Genuss in China oder Ungenießbares auf Chinesisch – Mo Yans Roman Jiuguo (Schnapsstadt)“ erschienen ist in: Cornelia Schindelin, Michael Poerner (Hg.): Sprache und Genuß – Beiträge des Symposiums zu Ehren von Peter Kupfer. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang Verlag 2012. S. 51-65. Wir danken der Verfasserin, den Herausgebern und dem Verlag für die Erlaubnis zur Publikation in dieser Form.

Die Zitate aus dem Roman „Die Schnapsstadt“ sind der 2005 im Unionsverlag, Zürich, erschienenen Ausgabe entnommen. Der Übersetzer des Romans ist Peter Weber-Schäfer.