Unerlaubt Geschriebenes

Die Marbacher Ausstellung „Kassiber. Verbotenes Schreiben“ wurde im Literaturmuseum der Moderne eröffnet

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer kann von sich sagen, er sei nicht gefangen.“ Der Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller überhöhte seine vierjährige Haftzeit in der Strafanstalt Niederschönenfeld (1920-1924) ins Existenzielle – wohl zurecht. Denn hat man diese großartige Ausstellung, die Ende September im Marbacher Literaturmuseum der Moderne eröffnet wurde, erst einmal gesehen, so fragt man sich, welcher Autor eigentlich nicht im Gefängnis gesessen hat.

Kassiber, das sind geschmuggelte Botschaften, die „von Zelle zu Zelle“ wandern oder aus dem Gefängnis, dem Konzentrationslager, dem Gulag nach „draußen“ geschmuggelt werden. Der Erfindungsreichtum ihrer Urheber, ihrer Autoren ist atemberaubend: Viele von ihnen werden zu Bastlern, Handwerkern, Bildenden Künstlern, sogar Gärtnern. Wenig überrascht da noch die Lösung von Christian Friedrich Daniel Schubart, einen winzigen Zettel mit verschwindend kleiner Schrift zu fabrizieren, um ihn aus der Festung Hohenasperg zu schmuggeln (1785/86). Hans von Dohnanyi, prominenter Widerständler im Nationalsozialismus, ging da schon raffinierter vor. Er beschrieb insgesamt zwölf, auf die Größe von Pappbecherböden zugeschnittene Zettel, die sich zu einer längeren Korrespondenz zusammenfügen. Hier erfährt man vom Untersturmführer Knuth, der die Gefangenen „Ueberaus anständig“ behandelt, während der verschlagene Sachbearbeiter Sonderegger und der Untersuchungsbeamte Roeder „an Brutalität nichts zu wünschen übrig“ lassen.

Eindrucksvoll auch die Manuskriptrolle der „120 journées de Sodome ou L’école du libertinage“, die der Marquis de Sade in seiner Haftzeit penibel beschrieb, sorgsam jeden Raum nutzend.

Für viele war ihre Haftzeit Übel und Stimulanz zugleich. In der Haft singt der „Dichter im Käfig“ (Ezra Pound) wie ein Vogel, der sich nach Freiheit sehnt, und wer weiß, vielleicht reift auch in Guantanamo ein neuer Häftling zum Sänger heran. Auf Kalenderblätter schreibt Günther Weisenborn seine Gedichte aus dem Gefängnis Moabit (1943), und „Zwischen den Zeilen und auf dem Kopf“ verfasst Hans Fallada sein Gefängnistagebuch 1944 – es ist von so winziger Schrift und so schwer lesbar (und überdies verschlüsselt), dass es lange unentdeckt blieb. Glücklich, wer mit seinem oder seinen Adressaten einen Code verabredet hatte, oder der, wie Carl Schmitt, eine Kurzschrift zu verwenden wusste. Glücklich auch, wer eine Vertrauensperson fand, die – oft unter Gefahr der eigenen Freiheit – bereit war, die geheime Botschaft zu übermitteln.

Nicht selten auch war Schreiben ausdrücklich erlaubt: „Auf der Festung Hohenasperg wurde Strafgefangenen im 19. Jahrhundert ein Brief pro Monat gestattet.“ In der Weimarer Republik war das Schreiben und Publizieren während der Haftzeit generell möglich und teilweise sogar gern gesehen – so konnte Ernst von Salomon 1923/24 im Zuchthaus Striegau seine Studie „Wikinger. Gestalten und Wege zum völkischen Aufstieg“ verfassen.

Aus einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Louisiana richtete Alfred Andersch Briefe an seine Mutter, die vom Internationalen Roten Kreuz zugestellt wurden. Sogar Lagerzeitungen gab es, von Häftlingen für Häftlinge verfasst und teilweise aufwendig gestaltet. Manche Insassen versahen ihre Briefe mit eigenhändigen Zeichnungen, wie zum Beispiel Walter Janka (Bautzen 1960), mit Herbariumsblättern (wie Rosa Luxemburg, Breslau 1918) oder mit Collagen aus Zeitungsschnipseln (Christof Wackernagel, Bochum 1984).

Besonders anrührend liest sich der Abschiedsbrief von Guy Môquet an Vater, Mutter und Bruder, übersetzt von Ernst Jünger. Der Tod der 17-jährigen Geisel, die ihr Leben stellvertretend für französische Attentäter lassen musste, markierte das Ende der angeblich ‚friedlichen‘ Besetzung Frankreichs durch deutsche Invasionstruppen 1941.

Andere durften, wie Walter Kempowski, erst nach ihrer abgesessenen Strafe von der Haft erzählen. Alle seine Aufzeichnungen – von den ersten Manuskript-Fassungen 1956 bis zum späten Gedichtband „Langmut“ (2009) – stehen unter dem Eindruck seiner acht Bautzener Jahre sowie der ‚Schuld‘ der Untersuchungshaft in Schwerin und Rostock.

Helga Raulff hatte die Idee zu dieser Ausstellung, sie und Heike Gfrereis (und deren Mitarbeiter) entwickelten das Ausstellungskonzept. Zahlreiche Leihgeber, darunter Jeremy Adler, Klaus von Dohnanyi, Ulrike von Moltke und Volker Schlöndorff steuerten Texte zum herrlichen „Marbacher Katalog 65“ bei (Diethard Keppler und Marcus Wichmann nach einem Entwurf von Diethard Keppler und Stefan Schmid).

Die Ausstellung selbst, geplant und umgesetzt von den Ausstellungsmachern „Space 4“, lässt die einzelnen, mitunter winzigen Exponate deutlich hervortreten – sie wirkt karg und doch eindrucksvoll. Fritz J. Raddatz, der die Ausstellung eröffnete, erweiterte den Begriff des Kassibers, indem er vorschlug, jede versteckte, geheime, nur manchen offenbarte und offenbare Botschaft als Kassiber zu begreifen: „Kassiber“ bedeute schlicht „Geschriebenes“ und stehe bald für unerlaubt Geschriebenes. Es bedeute aber auch „amtliche Papiere“, stehe für sensible Wege der Post, für Talismane aller Art, für private Briefe und antifaschistische Pamphlete, für das Flüstern und Raunen, das hinter dicken Mauern verhallt.

Wollen wir das alles gelten lassen, als Kassiber? Raddatz wollte und wurde darin von Herbert Wiesner, dem Generalsekretär des P.E.N., sowie Liao Yiwu, dem chinesischen Dissidenten, bestärkt. Letzterer beschrieb es als „großes Privileg“, in der Freiheit leben zu dürfen. China sei ein großer ‚Müllhaufen‘ geworden, die Zerstörung der Umwelt und der Städte dort sei nahezu unerträglich geworden. Seine Manuskripte aus dem Gefängnis, ebenfalls in Marbach ausgestellt, sollen in den Archivbestand des Deutschen Literaturarchivs aufgenommen werden: Auch die Schillerhöhe muss international werden, wo sie es nicht schon ist. Behutsam und mit Augenmaß ist aufzunehmen, wer als deutscher Autor arbeitet oder als Autor deutsche Gastfreundschaft genießt – „ein Sprung in die politische Aktualität unserer Tage“ (Ulrich Raulff).

Anmerkung der Redaktion: Die Ausstellung läuft bis zum 27. Januar 2012.

Titelbild

Heike Gfrereis / Ellen Strittmatter (Hg.): Zettelkästen. Maschinen der Phantasie.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2012.
384 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384832

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