Religionsfreiheit und Kindeswohl

Einige Anmerkungen zur Beschneidungsdebatte

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

„Nichts, kein Terroranschlag, kein Euro, kein Hunger und kein Krieg, erregt die Deutschen so sehr wie die Vorhaut.“ Das schrieb Harald Martenstein unlängst im Berliner „Tagesspiegel“. Und tatsächlich: Seit einigen Monaten erreichen Berichte über den Stand der Beschneidungsdebatte auf Nachrichtenportalen die meisten Kommentare. Die Mehrheit der Kommentatoren spricht sich dabei gegen ein Recht auf die Durchführung von Beschneidungen an nicht-einwilligungsfähigen Personen aus, lehnt also die rituelle Beschneidung männlicher Säuglinge und (Klein-)Kinder ab, wie sie in Judentum und Islam vorgenommen werden. – Ein kurzer Einblick in eine eigenartige Debatte und ihre stereotypen Argumentationsfiguren.

Das Urteil und dessen Diskussion

Das Landgericht Köln verbietet im Juni 2012 die rituelle Beschneidung als „Körperverletzung“. Das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit überwiege das Grundrecht der Eltern, ihre Religion auszuüben und an die Kinder weiterzugeben, heißt es in der Begründung. Der Zentralrat der Juden in Deutschland wertet dies als „einen beispiellosen und dramatischen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften“. Es beginnt eine Diskussion in den Medien, die binnen kürzester Zeit hunderte von Stellungnahmen gebiert, vor allem im Netz blühen die Kommentarboxen.

Die Diskussion des Beschneidungsurteils enthält vieles: im Wesentlichen Zustimmung zum Urteil, hygienisch-medizinische Expertisen zum Thema Beschneidung (wobei oft nicht zwischen der Beschneidung von Jungen und Mädchen unterschieden wird), ganz viel Unverständnis angesichts des fremdartigen Phänomens „Religion“, die verstärkte Infragestellung der Religionsfreiheit als Menschenrecht, ermüdende Wiederholungen immer gleicher Textbausteine in immer gleicher Diktion, manchmal auch die Forderung nach Ausweitung staatlicher Eingriffe im Dienste der Freiheit und zum Schutz des Kindeswohls (Verbot von christlichen Taufen und katholischem Religionsunterricht) sowie die Tendenz zur Bereitschaft, Erziehungsprinzipien staatlich und nicht von den Eltern bestimmen zu lassen.

Das Urteil wird denn auch vor allem als Befreiungsschlag gegen „die Religion“ gelesen. Ein typischer Kommentar: „Das Urteil gegen die Beschneidung ist ein bedeutender Schritt in eine Welt der Aufgeklärtheit. Wenn man ehrlich ist, so hat die Religion vor allem immer nur eins getan: Fortschritt im Geiste verhindert und Intoleranz geschürt.“ Insoweit freut es viele, dass es endlich „der“ Religion an den Kragen geht, wobei erstaunlich oft im nächsten Satz betont wird, die „Religionsfreiheit“ sei von dem Urteil gar nicht betroffen. Zwischen konstitutiven und nicht-konstitutiven Elementen einer Religion wird nicht weiter unterschieden. Die Bedeutung des menschlichen Treuebeweises wird nicht erkannt, ebenso wenig wie der Charakter der Beschneidung als Mitwirkung des Menschen am Bundesschluss Gottes. Stattdessen wird angenommen, es gehe bei der Beschneidung quasi um die nachträgliche Korrektur eines Schöpfungsmangels („Hätte Gott Männer ohne Vorhaut gewollt, hätte Gott halt Männer ohne Vorhaut erschaffen müssen!“). Ein anderer Kommentar, auch nicht untypisch: „Die schlimmsten Dinge passieren ohnehin im Namen der Religionen, die viel zu viel Macht bekommen haben. Käme man auch durch, als Feueranbeter, wenn man als frommer solcher, Häuser anzündet?“ Könnte es sein, dass jemand, der eine Beschneidung unter die „schlimmsten Dinge“ subsumiert – allerdings nur, soweit sie „im Namen der Religionen“ vorgenommen wird, die Beschneidung – neben der Wahrung des Kindeswohls auch ein klitzekleines Interesse daran hat, en passant – und weil die Sterne gerade günstig stehen – eben jenen „Religionen“ mal ordentlich eins über zu braten? An diesen „Generalabrechnungen“ mangelt es nicht.

Was man allerdings vergeblich unter den Kommentaren sucht, sind Rekonstruktionen des Urteils aus muslimischer und jüdischer Sicht. Die Genesis wird nicht zitiert, auch, wenn einigen „die Vorschrift mit dem achten Tag“ durchaus bekannt zu sein scheint. Aber die Tatsache, dass aus dem Urteil nun für das Judentum in Deutschland Probleme erwachsen, wird ignoriert. Dabei wird völlig vergessen, „daß der rechte Gesichtspunkt, um billig zu urteilen, der ist, sich in die Stelle des anderen zu versetzen“ (Gottfried Wilhelm Leibniz). Sich „in die Stelle“ eines Juden zu versetzen und dann zu merken, dass mit dem Urteil ein wesentliches Element der eigenen Identität betroffen ist, wäre hilfreich, um sich die allervoreiligsten Schlüsse zu verkneifen.

Den Stil des Diskurses fasst Heiner Bielefeldt treffend zusammen: „Auf der einen Seite fordert man verständlicherweise Empathie für die kleinen Jungen. Diese Empathie wird auf der anderen Seite von Menschen, für die religiöse Traditionen wichtig sind, völlig verweigert. Für mich ist das erschreckend. Schließlich geht es nicht nur um ein bisschen Brauchtumspflege. Der arrogante Ton, mit dem gerade im Moment über religiöse Traditionen gesprochen wird, verstört mich sehr. Der Streit zeigt: Offenbar haben wir nach wie vor auch hierzulande Probleme mit der Religionsfreiheit.“ („Missionieren verboten“, Pro Medienmagazin 4/2012, S. 7)

Die beiden Argumentationsfiguren

Die Debatte läuft als Streitgespräch, in dem vor allem zwischen zwei Argumenten abgewogen wird: Die Religionsfreiheit und das vorrangige Erziehungsrecht der Eltern auf der einen, die Religionsfreiheit des Kindes und das Kindeswohl auf der anderen Seite. Gegner eines Beschneidungsrechts sehen mit diesem die Religionsfreiheit des Kindes und dessen körperliche Unversehrtheit gefährdet. Da ist dann einerseits oft von einer „Markierung“ und Festlegung auf eine Religion die Rede, zu der das Kind nicht willentlich hat zustimmen können. Andererseits wird die Beschneidung zu einem „barbarischen Akt“ der „Gewalt“, an dessen Ende ein „verstümmelter“ Mensch zurückbleibe.

Zum ersten Punkt lässt sich sagen, dass Eltern für Kinder immer Entscheidungen treffen, von denen sie meinen, sie seien im Sinne des Kindes, ohne dies aber wissen zu können. Das Ansprechen in einer bestimmten Sprache, die Wahl einer bestimmten Schulform oder eben das Heranwachsenlassen in einer bestimmten religiösen Tradition, ist Sache der elterlichen Entscheidungsgewalt. Wer das grundsätzlich verhindern will, muss Eltern das Sorgerecht entziehen und dies etwa staatlichen Stellen übergeben. Die Geschichte des Utopismus ist seit Platon von diesem Gedanken getragen (Erziehung als Aufgabe des Gemeinwesens), die Geschichte des Totalitarismus hat Teile davon umgesetzt (Hitlerjugend, FDJ).

Der zweite Punkt ist eingewoben in die medizinische Bewertung der Beschneidung. „Religionsfreiheit kann kein Freibrief für Gewalt sein“, schrieben Mediziner und Juristen dazu in der „FAZ“. Gleichzeitig schreiben sie: „Wir setzen uns ein für eine Versachlichung der Diskussion.“ Nur, um dann noch einmal zu betonen, dass „Religionsfreiheit kein Freibrief zur Anwendung von (sexueller) Gewalt gegenüber nicht einwilligungsfähigen Jungen sein [kann]“.

Mir erschließt sich zwar nicht ganz, was der Vorwurf, die rituelle Beschneidung (nur die ist mal wieder gemeint, soweit ihre Praxis eben aus der Religionsfreiheit resultiert) sei Elterngewalt am unschuldigen Kinde, dem „durch die genitale Beschneidung erhebliches Leid zugefügt wird“, mit einer Versachlichung der Diskussion zu tun haben soll, aber mir muss sich ja auch nicht immer alles erschließen. Eigenartig finde ich allerdings schon, dass Mediziner und Juristen zwar offene Briefe an die „FAZ“ schreiben können, dabei auf die Beachtung der „wissenschaftlichen und rechtlichen Grundlage“ pochen (und damit nebenbei unterstellen, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages hätten diese bislang ignoriert) sowie – das bringt immer Punkte – auf die Berücksichtigung von „Erkenntnissen der Hirn- und Präventionsforschung“, dass sie aber offenbar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht kennen.

Die WHO verbucht nämlich Beschneidungen bei Jungen nicht unter „Gewalt“, sondern unter „Gesundheit“, mit der Folge, dass dort, wo man die WHO kennt, der Anteil der beschnittenen Jungen hoch ist. In den USA wurde 2005 bei mehr als der Hälfte aller männlichen Neugeborenen eine Beschneidung durchgeführt, die meisten von diesen sind Christenkinder. In Südkorea gibt es praktisch keine Juden und Moslems und dennoch sind 80 Prozent der Männer beschnitten. Aus gesundheitlichen Gründen und eben nicht, das sei unterstellt, aus Lust an „barbarischer Gewalt“.

Bestätigt wurde der Charakter der Beschneidung als gesundheitsförderliche Maßnahme auf der jüngsten Welt-AIDS-Konferenz in Washington D. C. (Juli 2012): Sieben Milliarden Dollar geben die Vereinigten Staaten jährlich für Kampagnen zur AIDS-Bekämpfung in Afrika und Asien aus. Dort gehe es sowohl um Maßnahmen zur Behandlung Kranker als auch um Prävention, so der Koordinator des Programms Eric Goosby. Ein Ziel der Kampagnen: 4,7 Millionen Männer sollen sich beschneiden lassen, um sich und ihre Partner besser vor einer Ansteckung zu schützen. Die Beschneidung gilt laut Experten also als Beitrag zum Schutz vor einer HIV-Infektion.

Was jetzt?

Ist eine Beschneidung gegen das Kindeswohl gerichtet?

Ich denke, jetzt ist die Modifikation der Fragestellung angezeigt, also das Aufbrechen der Front zwischen „Religionsausübung“ und „Körperlichkeit“. Die Frage muss lauten: Ist das eigentlich die richtige Sollbruchstelle im Diskurs: die Kollision der Grundrechte „Religionsfreiheit“ (Eltern) und „Unversehrtheit“ (Kind)? Elternrecht gegen Kinderrecht – ist das so?

Ich habe in den letzten Wochen viel mit Jüdinnen und Juden bzw. Judaistinnen und Judaisten korrespondiert, die sich alle insbesondere über die Rahmung der „Beschneidungsdebatte“ als Fall einer Grundrechtskollision erregten, also darüber, dass unterstellt wird, mit der Ausübung der Religionsfreiheit (das heißt der Beschneidung) werde in das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit eingegriffen und dadurch das Kindeswohl gefährdet. In Wirklichkeit hätten jüdische Eltern mit der körperlichen Versehrung durch die Beschneidung gerade das Kindeswohl im Auge. Das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ stehe also in Wahrheit gar nicht dem „Recht auf freie Religionsausübung“ entgegen, sondern vielmehr dem Kindeswohl selbst.

Das ist ein interessanter Gedanke. Für Juden gilt: Gerade durch die Wahrung der „körperlichen Unversehrtheit“ gegen den Willen der Eltern werde auch die Religionsfreiheit (nicht nur die der Eltern, sondern auch die des Kindes – das kann man aus dem Blickwinkel der jüdischen Religion ohnehin nicht trennen) – nämlich die positive Religionsfreiheit als Möglichkeit, wie ein Jude aufwachsen zu dürfen – erheblich eingeschränkt. Während ein Verlassen der Religionsgemeinschaft „Judentum“ später problemlos möglich sei, da eine Beschneidung für einen Mann ja nicht hinreichend, sondern nur notwendig ist, um Jude zu sein, sei es umgekehrt praktisch unmöglich, später die eigene Religion so anzunehmen, wie das möglich gewesen wäre, hätten die Eltern im Sinne des „Kindeswohls auf Religionszugehörigkeit und Sozialisation“ entschieden und das Kind gemäß den jüdischen Vorschriften beschneiden lassen.

Diese Vorschriften sind nämlich eindeutig: Männliche Juden sollen beschnitten werden, „sobald sie acht Tage alt sind“ (Gen 17, 12). Die einschlägige Stelle in der Genesis macht deutlich, welche Brisanz die Sache für Juden hat: „Und Gott sprach zu Abraham: Du aber halte meinen Bund, du und deine Nachkommen, Generation um Generation. Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Das soll geschehen zum Zeichen des Bundes zwischen mir und euch. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld von irgendeinem Fremden erworben, der nicht von dir abstammt. Beschnitten muss sein der in deinem Haus Geborene und der um Geld Erworbene. So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein. Ein Unbeschnittener, eine männliche Person, die am Fleisch ihrer Vorhaut nicht beschnitten ist, soll aus ihrem Stammesverband ausgemerzt werden. Er hat meinen Bund gebrochen.“ (Gen 17, 9-14)

Wer sich nicht beschneiden lässt beziehungsweise wer nicht dafür sorgt, dass seine männlichen Nachkommen nach Gen 17, 12 ordnungsgemäß beschnitten werden, hat – nach jüdischem Verständnis – den Bund mit Gott gebrochen und wird für andere Juden untragbar. Damit kommt das Beschneidungsverbot für Juden einem vollständigen Religionsausübungsverbot gleich, denn die jüdische Religion ist ohne „Bund mit Gott“ und ohne die Identifikation mit dem „Stammesverband“ nicht denkbar. In der Konsequenz stellt das Landgericht Köln also nicht die Beschneidung als traditionelles, im Grunde aber lässliches „Ritual“ unter Strafe, sondern einen ganz wesentlichen Aspekt der jüdischen Identität, ohne den es schlicht und einfach nicht möglich ist, Jude zu sein.

Das gilt für den Islam nicht ganz so. Der Theologe Thomas Baumann macht diese Differenz deutlich: „Die Beschneidung im Islam ist etwas ganz anderes als die Beschneidung im Judentum oder die Taufe im Christentum. Man wird nicht Moslem durch die Beschneidung […]. Die Beschneidung findet sich nicht im Koran und ist nur eine (allerdings dringende) Empfehlung des Propheten aus der Überlieferung. Sie steht aber nicht im Kontext der Glaubensübernahme, sondern der Reinheitsvorschriften (tahara).“ („Moderne Irrtümer und ihre Herkunft: Von Donatisten, Ikonoklasten und anderen Ketzern“)

Baumann markiert hier zwei gravierende Unterschiede des Islam zum Judentum hinsichtlich der Beschneidung: 1. Das Fehlen einer göttlichen Weisung für die Beschneidung in der für den Islam grundlegenden heiligen Schrift (Koran) und 2. der Charakter der Beschneidung für den muslimischen Glauben: nicht Initiationsritus, sondern Verhaltensnorm. Es geht aber in beiden Fällen um Identität, mal mehr, mal weniger, mal als religiöser Initiationsritus, mal als religiöse Verhaltensnorm. Dass ein Aufwachsen in einer religiösen Tradition dem Kindeswohl dient, kann indes nur eine Gesellschaft, die für Religion kein Gespür hat, so systematisch übersehen.

Die Argumente im Spiegel der UN-Kinderrechtskonvention

Ein Blick über den Tellerrand kann auch in diesem Fall wahre Wunder tun. Blicken wir also vom deutschen Grundgesetz auf die UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Da finden wir zunächst den Vorrang des Kindeswohls formuliert (Art. 3.1: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“).

Doch ist ja gerade strittig, ob eine Beschneidung oder eher die Nicht-Beschneidung regelmäßig dem Kindeswohl männlicher Juden (und Muslime) entspricht. Zum Kindeswohl gehört unzweifelhaft die in Artikel 14 verankerte „Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“, welche „die Vertragsstaaten achten“ (Absatz 1). Zugleich achten die Vertragsstaaten „die Rechte und Pflichten der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds, das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten“ (Absatz 2). In der jüdischen Tradition gehört die Beschneidung zur „Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise“. Ein jüdisches Kind hat das Recht darauf, dass der Vertragsstaat Deutschland seine jüdische Identität achtet und seine Eltern ihm zu einer solchen verhelfen.

Im Fahrwasser der Argumentationsfigur „körperliche Unversehrtheit“ lässt sich dagegen etwa Artikel 19 anführen, in dem jedem Kind „Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung“ garantiert wird. Absatz 1 lautet: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Mißhandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Mißbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut.“ Es ist klar, dass die Dramatisierung der Beschneidung und ihrer Folgen auch dazu dient, die Beschneidung unter diese Norm subsumierbar zu machen. Ob das verfängt, ist fraglich, da das ja zugleich hieße, die WHO, die die Beschneidung bei männlichen Neugeborenen als Routineoperation empfiehlt (unter anderem zum Schutz gegen die Übertragung von Krankheitserregern wie HIV-Viren), habe empfohlen, routinemäßig eine Gewalttat an Babys zu verüben. Dass also die Gleichung „Beschneidung ist gleich Gewalt“ so einfach nicht aufgeht, dürfte damit klar sein. Auch ein Verweis auf Artikel 24.3, wonach „die Vertragsstaaten [..] alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen [treffen], um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“ (Hervorhebung von mir), scheint angesichts der WHO-Beurteilung von Beschneidungen bei Jungen als der Gesundheit förderlich mithin mehr als abwegig.

Interessant ist dann vor allem Artikel 30, welcher lautet: „In Staaten, in denen es ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten oder Ureinwohner gibt, darf einem Kind, das einer solchen Minderheit angehört oder Ureinwohner ist, nicht das Recht vorenthalten werden, in Gemeinschaft mit anderen Angehörigen seiner Gruppe seine eigene Kultur zu pflegen, sich zu seiner eigenen Religion zu bekennen und sie auszuüben oder seine eigene Sprache zu verwenden.“ Das trifft auf jüdische und muslimische Kinder in Deutschland zu. Eine Nicht-Beschneidung hinderte sie ja gerade an Kulturpflege und Religionsbekenntnis.

Also: Die UN-Kinderrechtskonvention schützt das Recht auf Beschneidung – aus der Sicht des Kindes und aus Gründen des Kindeswohls. Artikel 19 könnte zweifellos auch die Basis dafür bieten, den Eltern jegliche religiöse Interaktion mit dem Kind zu untersagen, soweit diese als „geistige Gewaltanwendung, Schadenszufügung oder Misshandlung“ angesehen wird. Es scheint, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil derer, die zu dem Thema Stellung bezogen haben, genau diese Weiterung in Erwägung ziehen. Da man so schlecht kontrollieren kann, ob Papa nicht doch vor dem Essen betet, ohne dass den Kindern die Ohren verstopft wurden, ist dann eben die Entziehung des Sorgerechts der einzig gangbare Weg, die religiöse Neutralität der Formation deutscher Kinder sicherzustellen.

Wir müssen jedoch grundsätzlich aufpassen, dass wir mit dem „Soll sie/er später selbst entscheiden!“ nicht zur Lebensuntüchtigkeit erziehen. Ich bin ja auch dafür, dass Mütter nicht mehr mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache sprechen dürfen sollten, denn das legt das Kind unzulässig auf eine Sprache fest! Wenn das nun ausgerechnet ungarisch ist (und nicht englisch oder wenigstens Mandarin), hat das Kind einen bleibenden Bildungsnachteil. Wer die Analogie von Religion und Sprache jetzt für überzogen hält, sollte Richard Schröder hören: „Die Idee, Kinder im Status eines religiös unbeschriebenen Blattes zu halten, eröffnet ihnen nicht die große Freiheit der Wahl, sondern verhindert sie. Es ist wie bei den Sprachen: Nur wer früh genug eine Muttersprache gelernt hat, kann Fremdsprachen lernen und sogar die Muttersprache wechseln.“ (vergleiche „Abschaffung der Religion?“) Und was, wenn Väter durch ihre Erziehung die Berufswahl ihrer Kinder prädisponieren, und es sich dabei um einen Beruf handelt, in dem man weniger verdient als der Durchschnitt? Hat das Kind dann das Recht, die Differenz einzuklagen? Ja, wie steht es überhaupt mit der eigenen Existenz? Auch diese ist ja der Entscheidung des Kindes entzogen. Zu Recht? Müsste man nicht das Kind fragen, ob es leben will, bevor man als Eltern entscheidet, dass es leben soll? – Ein Fass ohne erkennbaren Boden.

Fazit

Grundsätzlich ist es problematisch, die Erziehungsrechte der Eltern einzuschränken, schlicht, weil Eltern Eltern sind. Und ihre Kinder sind ihre Kinder. Das gibt ihnen freilich nicht jedes Recht im Umgang mit ihnen – die UN-Kinderrechtskonvention gibt eine sehr gute Orientierung in der Frage, was geht und was nicht geht. Die Weitergabe der eigenen Kultur, Sprache und Religion geht immer, auch in der Minderheitensituation.

Eins muss klar sein: Jede Erziehung engt den Raum der Möglichkeiten ein. Anders geht es nicht. Einem Kind alle Optionen offen zu halten, damit es später selbst entscheidet, ist eine Utopie. Auch die Verweigerung einer Option ist Teil einer gelenkten Erziehung. Zudem ist „Neutralität“ in vielen Fragen nicht möglich, gerade im Bereich der Vermittlung von sinnstiftenden Traditionen und der Hilfen zur Lebensorientierung und -bewältigung, in den immer auch Weltanschauliches einfließt, ist „Neutralität“ fehl am Platz – hier geht es um Authentizität, Integrität und Empathie. Bei religiösen Eltern kommt hier die Religion unweigerlich ins Spiel. Wer sein Kind bis zum 14. Lebensjahr strikt vor jeglichem religiösen Einfluss abschirmt, wird auch kein religionsmündiges Kind heranziehen, sondern ein religiös unmusikalisches, was ein Unterschied ist. Enthält man dem Kind gar die eigene religiöse Tradition vor, wächst ein Mensch heran, bei dem Identitätsprobleme vorprogrammiert sind. Will man das? Will es das Kind? Diente das dem Kindeswohl? Und der Religionsfreiheit? – Diese Fragen kommen in der gegenwärtigen Debatte um die Beschneidung viel zu kurz.