Sehnsucht ist eine Tat

Auch in ihrem zweiten Roman bewegt sich die tschechische Autorin Markéta Pilátová souverän in der südamerikanischen Welt der Machos und Mythen

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ hatte die 1973 in Prag geborene Markéta Pilátová mehr als fünf Jahre in Argentinien, Brasilien und Mexiko verbracht. Bereits ihr erster Roman „Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein“(2010) war vom Zauber südamerikanischer Exotik geprägt.

Auch im vorliegenden Roman „Mein Lieblingsbuch“ verschränken sich mäanderartig verschiedene Lebensentwürfe und fügen sich in der Gesamtschau zu einem komplexen Gesamtbild. Ein namenloser Tätowierer führt im Roman so etwas wie Regie. Als eine Art Klammer des gesamten Geschehens wird das Leben des Dr. Michael Vidal in seinen Facetten erzählt. Bis zu seinem Tod hatte Vidal, umgeben von seinen zwei Frauen, selbstherrlich wie ein Autokrat ein Institut geleitet, das auf die Herstellung von Schlangenserum spezialisiert war. Sein Tod war umstritten, da er als Wiedergänger aufgetreten sein soll.

Ohne dass es ihm richtig bewusst geworden war, hatte das bisherige Leben Vidals eine entscheidende Zäsur erlebt, als er erstmals der Würgeschlange Haré begegnet war. Genauer, als er sich erstmals mit diesem außergewöhnlichen Exemplar im wahrsten Sinne des Wortes befasst hatte. Hunderte von Schlangen hatte er in seinem Forscherleben schon befühlt und betastet, ihre geschmeidigen und zugleich muskulösen Körper waren ihm nicht fremd. Bei Haré hatte ihn instinktiv das Gefühl beschlichen, dass in seinem Labor etwas nicht in Ordnung ist. Als würde alles, was ihn umgibt, von einer unsichtbaren Macht beherrscht. Beim Streicheln dieser Schlange begannen sich beider Gedanken gegenseitig zu durchdringen. Dr. Vidal „fühlte das Fieber der Schlange, deren Melancholie, die ihn durchdrang, sah seine zwei Frauen, schon alt und immer noch fröhlich, sah, daß alles im Lot war und daß manche Schlangen lange, sehr lange leben“.

In diesem Tagtraum dämmerte es Dr. Vidal, dass statt messbarer Enzyme und Proteine der Gedanke der Ewigkeit entscheidend für ein Weiterleben ist. Dass Träume und Visionen die nüchterne Wirklichkeit der Zivilisation übersteigen, hatte auch Pajita, das Schlangenmädchen erfahren. Das Mischlingsmädchen aus den Bergen hatte es über viele Umwege in ein Krankenhaus verschlagen, in welchem sie dadurch aufgefallen war, dass sie für arme Patienten Schlangengift als Anästhetikum verwendete. Woher aber stammten ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten? „Sie wußte es selbst nicht. Die Einzigen, die etwas wußten, waren die Schlangen, ihr gemeinsames uraltes Bewusstsein der Zusammenhänge“. Letztlich landete Pajita dann in Dr. Vidals Institut für Schlangenserum und sie litt darunter, jene Geschöpfe, die ihr innerlich nahe standen, unter Schmerzen auszubeuten.

Es war nicht zufällig wieder Haré, die Schlange, welche Pajita in einem Traum nahe legte, Dr. Vidals Institut zu verlassen. Das Mädchen tat sich mit Vogel, einem pfiffigen Burschen aus dem Slum zusammen. Das Schicksal jedoch sollte auch für dieses Paar eine grausame Überraschung bereithalten.

Es ist ein Kennzeichen dieses Romans, dass das Figurentableau weit gestreut ist. Hier lauert für die Erzählerin die Gefahr einer postmodernistischen Beliebigkeit, der sie knapp entgeht. Neben Medizinern und dem Slummilieu spielt ein homosexueller Psychiater mit polnischer Herkunft eine Rolle. Und dann gibt es noch Pula, die Freundin von Stinkehugo, der über eine seherische Veranlagung verfügt.

Dass Dr. Michael Vidal, dieser „große Erzengel Gabriel“ ihr leiblicher Vater war, erfährt die neunzehnjährige Pula eher zufällig und ganz nebenbei in einer Art Lebensbeichte ihrer Mutter, der Meeresbiologin Linda Valparaís. Und die Meeresbiologin berichtete ihr unter anderem auch von einem zwanzig Jahre alten Traum und was ihr der Schlangenmann damals eingeflüstert hatte: „Ich bin nichts als Sehnsucht. Und die Sehnsucht ist eine Tat. Du kennst jetzt den Geschmack der Gegenwart und hast die unermessliche Leere kennengelernt. Ich bin für immer dein Begleiter, du selbst hast mich herbeigerufen vom Grund deiner tiefsten Sehnsucht“.

Die Schlange als Urgrund allen Lebens und aller Vorstellungen windet sich unsichtbar durch sämtliche Schicksalsbilder dieses Romans. Und was zunächst zerrissen scheint, fügt sich im Schatten dieses schlängelnden Mythos wieder zusammen.

Auf ganz überraschende Weise wirken diese südamerikanischen Szenerien, so fremdartig sie auf den ersten flüchtigen Blick hin anmuten mögen, dem Leser nahezu vertraut. Der in diesem Zusammenhang gerne kolportierte „magische Realismus“ wird bei Pilátová dankbar aufgegriffen und aufwendig angereichert. Eine vorzügliche Übersetzung tut ihr Übriges. Subtil mischen sich südamerikanische Impressionen mit böhmischer Freude am Erzählen, durchwirken sich ungezügelte Lebenslust mit melancholischer Wehmut.

Pilátová ist auch mit ihrem zweiten Roman ein in sich stimmiger Wurf gelungen, der mit der Strahlkraft seiner Bilder und einer erzählerischen Souveränität überzeugt.

Titelbild

Markéta Pilátová: Mein Lieblingsbuch.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Julia Koudela-Hansen-Löve und Christa Rothmeier.
Wilhelm Braumüller, Wien 2012.
400 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783992000753

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