Geschichten von den tollen Märchentanten

Passend zur Vorweihnachtszeit erscheint ein wunderbarer Band mit Märchen deutscher Dichterinnen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1812, also vor genau zweihundert Jahren, erschien die erste Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“. Gesammelt und herausgegeben hatten sie Jacob und Wilhelm Grimm. Das heißt, gesammelt haben die beiden Brüder sie eigentlich nicht alleine. Sie hatten einen Freundes- und Bekanntenkreis, der in nicht geringem Maße sich ebenfalls auf die Suche begab und so manches Märchen beisteuern konnte. Jedenfalls wird das Jubiläum nun vor allem in den Städten ihres Wirkens gebührend begangen. Neben Volksmärchen, die von den Grimms oder auch Ludwig Bechstein gesammelt wurden, gibt es bekanntlich noch die sogenannten Kunstmärchen wie etwa „Das Wirtshaus im Spessart“, „Das steinerne Herz“, „Udine“ oder „Die kleine Meerjungfrau“. Drei Märchen, die ebenso prominent sind wie ihre Verfasser Wilhelm Hauff, E.T.A. Hoffmann, Friedrich de la Motte Fouqué und Hans-Christian Andersen. Viele andere solcher Kunstmärchen sind hingegen weitgehend vergessen. Unter ihnen fast ausnahmslos all jene, die von Frauen verfasst wurden. Dabei sind einige der Märchen-Dichterinnen wie etwa Katharina die Große, Bettine von Arnim, Marie von Ebner-Eschenbach oder Ricarda Huch gar nicht einmal so unbekannt. Nur als Verfasserinnen von Märchen kennt sie niemand. Andere Märchen-Dichterinnen hingegen sind so gut wie ganz vergessen. Wer hat beispielsweise schon einmal etwas von Louise Brachmann gehört, oder von Agnes Franz, Elisabeth Ebeling und Marie Timme? Wohl kaum jemand.

Dass sich dies nun zum Besseren wenden könnte, ist Shawn C. Jarvis zu verdanken. Unter dem Titel „Das Reich der Wünsche“ hat sie „die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen“ aus den Jahren 1781 bis1892 zusammengestellt. Nun wurden sie zwar alle im, wenn man so will, langen 19. (Märchen-)Jahrhundert geschrieben, doch handeln sie „zu Zeiten, als das Märchen noch auf Erden umherwanderte und in Gestalt einer schönen Jungfrau mit geheimnisvollen, unergründlichen Augen von einem Lande zum anderen zog“, wie es in einem von ihnen heißt. Dass sie dabei mehr von der Zeit ihrer Entstehung geprägt sind als von derjenigen, in der das Wünschen noch geholfen hat, versteht sich. So trafen sie „den Geschmack wie auch den Geist ihrer Zeit“ und bieten uns Heutigen daher „höchst aufschlussreiche Einblicke in die sozialen und kulturellen Verhältnisse der Epoche“, wie die Herausgeberin konstatiert. Das dürfte aber kaum der Grund sein, aus dem die meisten zu dem Buch greifen werden. Sie möchten sicher vielmehr einfach in zauberhafte Märchenwelten entführt werden. Und diese Hoffnung wird ihnen nicht enttäuscht. Denn die zusammengetragenen Märchen aus weiblicher Feder erfüllen – und übertreffen zugleich – die Erwartungen der Lesenden, indem sie die aus den Märchen des anderen Geschlechts „bekannten Handlungsmuster“ zwar aufgreifen, aber auch „gegen den Strich“ bürsten.

Jarvis hat die insgesamt 21 Märchen von ebenso vielen Autorinnen chronologisch angeordnet. Die drei ersten tragen Königskinder im Titel: Einen Zarewitsch, eine Prinzessin und einen Königssohn. Weist die Autorin des ersten Märchens, Katharina die Große, ihrem Protagonisten voller Ernst den Tugendpfad, so kritisiert Friederike Helene Unger im zweiten mit leichter Ironie und schelmischem Augenzwinkern das Mädchen zugedachte Erziehungskonzept Jean-Jaques Rousseaus, wobei auch Joachim Heinrich Campes „Väterlicher Rath an meine Tochter“ nicht ganz ungeschoren davon kommt. Bettine von Arnim, der Dritten im Bunde, wiederum geht es gar nicht so sehr um den titelstiftenden Königssohn, sondern vielmehr um dessen Mutter. Sie hat ihn denn auch gar nicht selbst in den Titel gehoben. Dies ist vielmehr einem Arnim-Forscher des frühen 20. Jahrhunderts anzulasten, der das bis dahin titellose Märchen immerhin als erster publizierte.

Nicht nur für die Kinder interessierten sich die Märchen-Dichterinnen also, sondern nicht minder auch für die Mütter. Auch stehen keineswegs immer Menschen blauen Blutes im Zentrum des Geschehens, wenngleich man ihnen immer wieder begegnet. Oft aber gewähren ihnen die Autorinnen nicht einmal eine Nebenrolle. Nicht wenige der Märchen – vor allem in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts – handeln stattdessen gerne von Rhein- und sonstigen Nymphen, andere von Löwen, Fröschen und Affen oder von duftenden Blumen und gar von einer „garstigen kleinen Erbse“, die sich als nahe Verwandte des hässlichen Entleins erweist. Vielleicht um eine Cousine. Denn beide sind nahezu gleichen Alters.

Neben all den Menschen blauen Geblütes und den fantastisch gestalteten Märchen- und Zauberwesen kommen allerdings auch ganz gewöhnliche Leute vor, wie „die fleißige und mitleidige Hausfrau“ Amalie Schoppes, deren die Insel Fehmarn bewohnende Erdmännchen vermutlich schon mal eine befreundete Sippe in Köln besucht haben.

Die Autorinnen führen ihre Figuren bis hinein nach Afrika oder lassen den „tiefschwarzen“ Prinzen eines „großen Negerreichs“ in die Ferne ziehen, wo er und seine Gefährten sich „an dem ihnen fremden Anblick der weißen Gestalten gar nicht satt sehen können“. Unweigerlich verliebt er sich in die dortige Prinzessin, deren Haut „weiß und rosig“ ist. Leider erweist sie sich schnell als ebenso furchtbare wie unverbesserliche Rassistin, so dass sie nicht etwa wie in Märchen üblich geläutert und geehelicht werden kann, sondern grausam bestraft wird, während der Prinz unter Vorwegnahme des Slogans „black is beautiful“ lernt, sein „stolzes schönes Mohrengesicht“ zu lieben. Nun wird dem Rassismus mit diesem erzieherischen Märchen zwar eine gründliche Abfuhr erteilt, leider ist es aber nicht sonderlich frauenfreundlich, lautet die Moral der Geschichte doch: „Wahre Liebe bringt jedes Opfer, welches nicht gegen Recht und Vernunft streitet – aber niemals soll man sich von den Launen eines Weibes lenken lassen und kein Mensch soll die Gaben, die ihm die Natur verliehen hat, verachten und daran meistern wollen, um den Einfällen eines Mädchens nachzugeben.“ Solche unterschwellige Misogynität ist aber durchaus die Ausnahme. Etliche der Märchen verfolgen vielmehr feministische Anliegen, was bei Autorinnen wie Fanny Lewald, Louise Dittmar oder gar Hedwig Dohm auch gar nicht anders zu erwarten ist.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es sich um einen sehr schön aufgemachten und illustrierten Band handelt. Man könnte somit meinen, das „Reich der Wünsche“ lasse keinen Wunsch offen. Doch, einen schon: Den nach weiteren Märchen deutscher Dichterinnen. Denn in ihrem überaus kenntnisreichen Nachwort erwähnt die Herausgeberin so manche Märchen sowohl der in diesem Band vertreten sowie auch von anderen Autorinnen, die man nur zu gerne ebenfalls lesen möchte. Aber wer weiß, vielleicht müssen wir uns nur ein wenig gedulden und Jarvis beschenkt uns über kurz oder lang mit einem weiteren Band von ihr zusammengetragener Märchen deutscher Dichterinnen. Bis dahin kann man sein Vergnügen darin finden in langen – womöglich nachweihnachtlichen – Winterabenden immer mal ein wenig in den bereits vorliegenden zu lesen.

Titelbild

Shawn C. Jarvis (Hg.): Das Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
368 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406640247

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