Religious turns, heute und damals

Giorgio Agamben liest Kafka – anders als Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Walter Benjamin

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

In den letzten Jahrzehnten ist die Religion wenn nicht in die Wirklichkeit, so in den Diskurs zurückgekehrt. Das gilt nicht nur für die politischen Diskussionen über Fundamentalismus und Integration, sondern spielt sich auch auf einer grundsätzlichen Ebene ab. Heftige Diskussionen über Themen wie Monotheismus und Gewalt, der Rekurs auf religiöse Konzepte in Diskursen der Ethik, vermehrtes historisches Interesse für die Repräsentationskulturen der Religionen und insbesondere die Renaissance der Politischen Theologie zeigen, dass die Religion nicht mehr ein Randthema ist, sondern Aktualität und vor allem auch theoretische Relevanz hat. So verschiedene Autoren wie Jacques Derrida und Jürgen Habermas haben sich an einem bestimmten Punkt der Entwicklung ihres Denkens dem Thema zugewandt, für andere wie Jean-Luc Marion, Gianni Vattimo, Giorgio Agamben oder Jean-Luc Nancy war es von Anfang an zentral, Religion neu zu denken, und das heißt auch, sie wieder anders ernst zu nehmen. Besonders auffällig ist dabei, dass nicht nur das Phänomen der Religion, sondern auch die theologische Terminologie wieder benutzt wird, um die Wirklichkeit zu erklären: Konzepte wie Schöpfung, Epiphanie oder Erlösung sind heute nicht mehr nur eigenartige und erklärungsbedingte Ideen, sondern werden ihrerseits herangezogen, um in der Ethik, der Bildtheorie oder der Politik zu argumentieren. Die Theologie, die bekanntlich klein und hässlich war, scheint wieder etwas zu sagen zu haben.

Schon 1999 hatte Hent de Vries die Bewegung in der jüngeren Philosophie als „turn to religion“ beschrieben. Nimmt man die Rede vom ‚turn’ ernst, bezieht sie also auf die für die allgemeine Theoriedebatte so charakteristische Abfolge von lingustic, iconic, performative, ethical usw. turn, so handelt es sich dabei nicht nur um eine Mode und auch nicht einfach um die Entdeckung eines neuen Gegenstandsgebietes, sondern um eine Verschiebung des gesamten Diskurses. Das geschieht weniger durch das Aufkommen einer großen Theorie als durch das Bemerken einer Lücke, eines blinden Flecks der bisherigen Wissensordnung. So bestand etwa der linguistic turn keinesfalls in einer neuen Theorie der Sprache und auch nicht in der bloßen Behauptung, dass ‚alles‘ sprachlich sei, sondern auch in dem Eingeständnis, dass man eigentlich nicht wisse, was Sprache sei und dass es wohl auch nicht eine Disziplin gibt, die das beantworten könne.

Mit dem gegenwärtigen Interesse für Religion scheint es sich nicht unähnlich zu verhalten: Es geht davon aus, dass Religion heute in bestimmter Weise ungedacht ist, sei es, dass religiöse Phänomene in manchen Disziplinen oder Diskursen nicht oder nur am Rand vorkommen, sei es, dass diese immer schon erklärt sind (Religion ist ‚in letzter Instanz’ Politik, Ethik etc.) oder als Religion der ‚Anderen‘ (Wilden, Nichteuropäer, Fundamentalisten) formatiert werden. Ein ‚religious turn’ würde daher bedeuten, dass Religion erst einmal wieder unverständlich werden muss – und es auch bleiben sollte, also nicht allzu schnell mit einer neuen Theorie, einem neuen Narrativ, einem neuen Label ‚erklärt’ werden sollte. Das diese Gefahr immer besteht, dass von jetzt an eben alles ‚religiös’ ist wie vorher eben alles ‚sprachlich’, ‚performativ’ etc. war, dass mit anderen Worten Religion einfach nur zum Spielball großer Theorien wird – diese Ironie liegt wohl auch in der Logik der turns. Gerade die so lange verbannten theologischen Kategorien haben scheinbar eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf jene Großtheorien, welche – im Bilde Benjamins gesprochen – nicht die hässliche Theologie, aber ihre prächtigen Gewänder gerne anlegen. So unerlässlich es auch ist, das theologische Denken wieder zu verstehen und ernst zu nehmen – gegen eine solche Theologisierung der Theorie sollte man die Offenheit, Unselbstverständlichkeit und Unvertrautheit des Religiösen festhalten.

Agamben vor dem Gesetz

Will man etwas unvertraut machen, so ist die Literatur oft ein gutes Mittel. Das kann man etwa sehen, wenn Giorgio Agamben Franz Kafka liest. In Agambens Homo Sacer, dem wohl einflussreichsten Text der neueren Politischen Theologie, wird Kafkas Parabel Vor dem Gesetz im Rahmen einer rechtstheoretischen Erörterung gelesen. Agamben behauptet hier im Anschluss an Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustands, das moderne Recht würde nichts Besonderes mehr gebieten, sondern nur noch seine Rechtsform selber – eine Struktur, die Agamben auch als Form des ,Banns’ nennt. Kafkas. Der Mann vom Land bleibe im Bann des Gesetzes, das er nicht kenne und das nichts gebiete. Dies, so Agamben, stehe für eine allgemeine Krise der Legitimität, eine Ausleerung des Rechts, das nur noch gelte, aber nichts bedeute; eine Krise, die konstitutiv für das moderne Leben im Ausnahmezustand sei.

Mit Kafka lasse sich das Paradox des Gesetzes aber nicht nur beschreiben, sondern auch überschreiten. Vielleicht, so mutmaßt Agamben, sei das Nicht-Eintreten des Mannes vom Lande in das Gesetz gar kein Scheitern, sondern eine geduldige Strategie, die endliche Schließung des Tores zu erreichen; vielleicht wolle er – nach einer Formulierung Walter Benjamins – den zur Regel gewordenen Ausnahmezustand durch den wirklichen Ausnahmezustand ersetzen, in dem das Recht nicht nur inhaltsleer ist, sondern auch nicht mehr gilt. Das wäre, so Agamben, ein messianisches Ereignis und der Mann vom Land eine Art Vorläufer des Messias: „Denn der Messias wird erst eintreten können, nachdem man das Tor geschlossen hat, das heißt, nachdem die Geltung ohne Bedeutung aufgehört haben wird.“

Bei Agamben wird der Messianismus wieder zu einer aktuellen Kategorie, die sich nicht mehr auf irgendeine ferne Zukunft bezieht, sondern auf den Augenblick echten politischen Handelns, welches das Bestehende nicht einfach nur fortsetzt oder hinausschiebt, sondern es unterbricht. Vor dem Gesetz wird damit auch zu einer Parabel der politischen Theorie, sie impliziert eine Kritik der Dekonstruktion. Diese nämlich bleibe gewissermaßen im Bann einer Tradition, deren Bedeutung sie aushöhle, ohne ihre Geltung in Frage zu stellen: „Das Denken riskiert hier, sich zu unendlichen und unlösbaren Verhandlungen mit dem Türhüter verdammt zu sehen oder, schlimmer noch, zuletzt selbst den Posten des Türhüters einzunehmen, der, ohne das Eintreten wirklich zu verhindern, das Nichts bewacht, auf das sich die Tür öffnet.“ Die Dekonstruktivisten, so Agamben weiter, gleichen den Schriftgelehren, die das Himmelreich bewachen, aber niemanden hinein lassen, während er sich selber in die Nähe des Paulus stellt, der das Gesetz im messianischen Kairos aufhebt.

Für eine Kritik der Politischen Theologie

Agambens Lektüre kann nicht nur dem Kafka’schen Text, sondern auch dem Messianismus als Kategorie neuen Sinn abgewinnen. Aber das geschieht in einer doppelt ambivalenten Weise: Erstens bewegt sich Agambens Politische Theologie nicht nur ambivalent zwischen Politik und Theologie, sondern auch zwischen Kritik und Metaphysik. Es ist nämlich nicht einfach zu entscheiden, ob der Rekurs auf theologische Konzepte eine kritische Differenz einträgt oder nicht vielmehr dazu dient, den eigenen Diskurs zu immunisieren und mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen. Das trägt auch zum eigenartigen Effekt bei, dass Agambens Politische Theologie zwar die Grundlosigkeit jeder politischen Ordnung behauptet, selbst aber alle Tendenzen hat, zu einem wie auch immer idiosynkratischen Fundamentaldiskurs zu werden. Zweitens ist Agambens Diskurs, aber auch der vieler Zeitgenossen durch eine grundlegende jüdisch-christliche Ambivalenz geprägt, die sich in der jüdischen Lesart des Gesetzes, im Paulinsichen Messianismus und in Polemik gegen die Schrifgelehrsamkeit der Dekonstruktion niederschlägt und in der Polemik gegen die Schriftgelehrsamkeit der Dekonstruktion. Und bei aller Sympathie für die Betonung des konkret politischen Augenblicks des Handelns wird man doch seine Schwierigkeiten haben, den scheinbar implizierten christlichen Suprematismus zu beerben.

So produktiv sie auch ist, diese doppelte Ambivalenz ruft nach einer Kritik der Politischen Theologie, die genauer hinsieht, was eigentlich an jenen Grenzen – zwischen Politik und Theologie, Kritik und Metaphysik, Jüdischem und Christlichem – geschieht: Was öffnet und was verdeckt es, Konzepte und Denkfiguren aus der religiösen Tradition auf die Gegenwart zu beziehen? Wie funktioniert die ‚Übertragung’ theologischer Konzeptionen in die Politik und umgekehrt – also jener Prozess, den Carl Schmitt als ‚Säkularisierung’ bezeichnet und damit mit einem der schillerndsten Begriffe überhaupt belegt. Oder, anders formuliert: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen der Politischen Theologie und der Theologie, die sie zu beerben beansprucht? Sicher gibt es hier nicht den Unterscheid, und sicher kann man hier auch nicht entscheiden, was auf welche Seite gehört; Uneindeutigkeit ist wohl eher die Regel in der Übertragungszone. Aber man kann und muss diese Zone beobachten. Denn es scheint, dass eine Politische Theologie, die nicht über ihre Differenzen zur Theologie nachdenkt, allzu leicht der Versuchung erliegt, selbst ein hegemonialer Diskurs zu werden und die kaum errungene Öffnung des Religiösen wieder zu verschließen.

Interessanterweise ist eine solche Kritik historisch bereits entworfen worden – und zwar ebenfalls in der Auseinandersetzug mit Kafka, in Lektüren, die Agamben explizit, aber einseitig aufnimmt. Die ‚Krise des Gesetzes’ und dessen ‚Geltung ohne Bedeutung’ entstammt Gershom Scholems Kommentaren zu Kafka im Briefwechsel mit Walter Benjamin. In dieser Korrespondenz, zu der, im Hintergrund, auch Theodor W. Adorno gehört, wird ebenfalls über die Beziehung von Theologie und Moderne nachgedacht, und auch dort ist Kafka paradigmatisch. Eine Relektüre dieser Texte kann zeigen, wie komplex jenes Verhältnis ist und welche Hilfe die Literatur dabei sein kann, es als solches zu denken.

Inverse Theologie

Theologie in der Gegenwart muss, so eine Annahme des historischen Materialismus seit Feuerbach, vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Was eine solche Umkehr bedeutet, kann man an Adornos begeisterter Reaktion auf Benjamins Kafka-Essay in einem Brief vom 17. Dezember 1934 ablesen. Niemals sei ihm, so schreibt Adorno, „unsere Übereinstimmung in den philosophischen Zentren“ deutlicher geworden, insbesondere betont er, „daß das Bild der Theologie, in dem ich gerne unsere Gedanken verschwinden sähe, kein anderes ist als das, aus dem hier ihre Gedanken gespeist werden – es mag wohl inverse Theologie heißen“. Von einer solchen „inversen Theologie“ hatte er kurz zuvor gesprochen, als er Benjamin vor Brechts Atheismus warnte, „den als inverse Theologie uns vielleicht einmal zu retten ansteht, aber keinesfalls zu rezipieren“. Eine inverse Theologie ist offensichtlich eine Rettung theologischer Gehalte von einem Standpunkt aus, der selbst nicht theologisch oder jedenfalls nicht der einer geraden, nicht-invertierten Theologie ist. Zu retten ist dabei für Adorno insbesondere die Hoffnung noch im Hoffnungslosen und die Solidarität mit der leidenden Kreatur, die man eben bei Kafka finde.

Kafkas Werk stehe gewissermaßen selbst schon auf dem Kopf, sein Werk gleiche „einer Photographie des irdischen Lebens aus der Perspektive des erlösten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des schwarzen Tuches, während die grauenvoll verschobene Optik des Bildes keine andere ist als die der schräg gestellten Kamera selber“. ‚Theologie’, das macht dieses Bild deutlich, ist für Adorno zuallererst eine Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Perspektive; ‚invers’ ist sie, weil sie nicht von der Erde auf den Himmel schaut, sondern umgekehrt. Theologie in der Moderne, darüber ist sich Adorno – wie Kafka ein Leser Kierkegaards – im Klaren, ist also nicht einfach ein metaphysischer Diskurs, eine gewissermaßen spirituelle Welterklärung, die nur materialistisch gelesen werden muss. Sie ist vielmehr ein Diskurs der Differenz, wie ja gerade die zeitgenössische Dialektische Theologie betonte. Das heißt nicht nur, dass Religion jetzt zum ‚ganz Anderen’ wird, es bedeutet auch, dass die Rede über Religion einer bestimmten Topik folgt, weil es hier eben nicht egal ist, ob Gott zum Menschen oder der Mensch zu Gott spricht und das ‚Sprechen’ selbst daher eine mehrfache Bedeutung annimmt und immer wieder an seine Grenzen kommt.

Jedoch ist diese Differenz für Adorno keine abstrakte. Es ist bezeichnend, dass er sie selbst in ein Bild fasst, in die optische Metapher der fotografischen Aufnahme, die selbst von Kafka sein könnte. Denn auch dieser kritisiert immer wieder die Vermittlung oder Verbindung der Ebenen, so etwa in der folgenden Aufzeichnung aus dem dritten Oktavheft: „Psychologie ist die Beschreibung der Spiegelung der irdischer Welt in der Himmlischen Fläche oder richtiger: die Beschreibung einer Spieglung, wie wir, Vollgesogene der Erde, sie uns denken, denn eine Spiegelung erfolgt gar nicht, nur wir sehen Erde, wohin wir uns auch wenden.“ In einer für Kafka höchst charakteristischen Weise wird die Unterscheidung von Irdischer und himmlischer Welt durchgespielt, mehrfach verkehrt und verdreht und dabei zunehmend aufgelöst bzw. außer Kraft gesetzt. Mit ähnlichen Strategien des „gleitenden Paradoxes“ (Gerhard Neumann) untergräbt auch Adornos Fotographie-Bild die einfache Gegenüberstellung der Welten, ohne sie vollkommen aufzugeben; er nutzt die Möglichkeit der Unterscheidung gerade dadurch, dass er ihr die Selbstverständlichkeit nimmt. Die ‚Inversion’ der Theologie ist daher auch etwas anderes als ihre Anwendung, als die Profanisierung oder Übersetzung in philosophische oder politische Theorie. Denn auch wenn man sie vom Kopf auf die Füße stellt, aus der Theologie also etwa Psychologie macht, verschwindet jene Differenz nicht einfach. Die ‚Übertragung’ theologischer Kategorien erweist sich daher als höchst komplexes Unternehmen.

„Wenn es möglich wäre …“

In Agambens Gegenüberstellung von (pharisäischer) Schriftgelehrsamkeit und (paulinischer) Politik steht Gershom Scholem für die erstere Position, Benjamin für die zweite. Tatsächlich ist aber auch Scholems Nachdenken über Kafka nicht einfach nostalgisches Festhalten an der Tradition, es geht vielmehr aus einer Reflexion über diese Tradition hervor, die sehr viel uneindeutiger ist, als Agamben das suggeriert. Schon 1926 hatte Scholem notiert: „Das Gleichnis vom Torwächter des Gesetzes ist das letzte Wort jüdischer Theologie, an seiner eigenen Dialektik nicht zerbrechend, sondern umso gewaltiger erstrahlend. Hier zerlegt das wahre talmudische Denken in strahlenden Farben sein Licht.“ Das letzte Wort – Scholem fragt nach der Theologie von ihrem Ende und von ihrem Ausdruck her. Sie ist Teil der Tradition und von deren Geschichte; als Tradition einer Schriftreligion realisiert sie sich in verschiedenen sprachlichen Formen wie der mündlichen und der schriftlichen Überlieferung, dem Kommentar und der Übersetzung oder der Halacha und der Haggada, also dem rechtlichen und dem narrativ legendarischen Teil der jüdischen Traditionsliteratur. Aus dieser Stellung heraus, so Scholem, sei das „theologische Geheimnis der vollkommenen Prosa“ bei Kafka verständlich: „So muss ja wohl, wenn sie möglich wäre (das freilich ist die Hypothesis der Vermessenheit!!), die moralische Reflexion eines Halachisten aussehen, der die sprachliche Paraphrase eines Gottesurteils versuchen wollte.“ Die Rede vom ‚Gottesurteil’ stellt Kafkas Schreiben in Beziehung zum jüngsten Gericht, aber auch zur Offenbarung. Die Rede vom ‚Gottesurteil’ stellt Kafkas Schreiben in Beziehung zum jüngsten Gericht, aber auch zur Offenbarung. Kafka würde einen Kommentar zu dieser Offenbarung schreiben – wenn das möglich wäre. Im verneinten kontrafaktischen Konjunktiv – eine Wendung, die bekanntlich selbst typisch für Kafka ist – wird das gerade Erwogene zurückgenommen. Wie Adorno betont auch Scholem damit die Inkommensurabilität zweier Sphären – von Gottesurteil und menschlicher Umschreibung, von Offenbarung und Tradition.

Auch Scholem fasste dieses Verhältnis in ein Bild: In Kafkas Welt sei die Offenbarung nicht einfach verloren gegangen, so merkt er kritisch zu Benjamin an, sondern unlesbar geworden, und „auf ihr Nichts zurückgeführt“, sie sei „unvollziehbar“ geworden, eben weil sie von der sie deutenden Tradition abgeschnitten sei: „Erst in den Spiegelungen wird das Wort Gottes in der Offenbarung anwendbar und damit der menschlichen Tat als Konkretes auch ergreifbar. Eine unmittelbare, undialektische Anwendung des göttlichen Wortes gibt es nicht. Wenn es sie gäbe, so wäre sie zerstörend.“ Wieder handelt es sich um ein optisches Bild, das fast geometrisch abstrakt ist (Nullpunkt, Projektion); wieder benutzt es einen negierten Konjunktiv: Es gibt keine Anwendung der Offenbarung ohne Tradition. Aber wenn es sie gäbe, wäre sie zerstörend. Wieder entwirft das eine komplexe Rhetorik: Scholem spricht gewissermaßen mit doppelter Stimme, mit einer säkularen Stimme des Historikers und der religiösen Stimme des Apokalyptikers, und dementsprechend kann auch das „letzte Wort jüdischer Theologie“ doppelt verstanden werden: als deren Ende in bloßer Schrift wie auch als das endgültige, eschatologische Wort.

Scholems Einordnung von Kafka in die Tradition macht nicht nur deutlich, dass Theologie keine abstrakte Sprache ist, sondern eine Geschichte hat, genauer: eine Geschichte ist, denn als Tradition ist sie wesentlich Geschichte. Er betont auch, wie schwer es ist, beim Denken dieser Geschichte die säkulare und die religiöse Deutung weder zu identifizieren noch vollkommen zu trennen, also von Offenbarung weder rein historisch noch einfach theologisch zu sprechen. Kafkas Verfahren, ein Oppositionspaar durch eine – negierte – dritte Möglichkeit zu irritieren, erweist sich dabei als fruchtbarer Anstoß.

Die Pranke der Literatur

Für Walter Benjamin wurde die Beschäftigung mit Kafka in den 1930er-Jahren „zum Kreuzweg der Wege meines Denkens“. Nicht nur kreuzten sich hier die Perspektiven und Interessen seiner verschiedenen Freunde – Adornos vereinnahmende Beschwörung der Übereinstimmung, Scholems Kritik, von beider Warnung vor Brecht zu schweigen –, Benjamin klärte hier auch seine eigene Position, gerade zur Theologie. In einer Rezension von 1931 lobt er die „Theologische Kritik“ von Willy Haas, die gerade in den Kafka’schen Texten eine „Theologie auf der Flucht entdecke“ und überhaupt versuche, den Weg zum Kunstwerk durch Zertrümmerung der Lehre vom ‚Gebiet’ der Kunst zu bahnen. Die theologische Betrachtungsweise gewinnt ihren vollen Sinn in einer verborgenen, so um so destruktiveren Wendung gegen die Kunst.“ Wie oft bei Benjamin ist das auch ein Selbstproträt, denn auch seine Arbeiten richten sich gegen das bürgerliche Kunstverständnis des 19. Jahrhunderts, das die Kunst von der Erfahrung abgetrennt habe und ihr das politische Potential geraubt habe. Theologische Kritik, so ließe sich paraphrasieren, ist notwendig und möglich, weil die Kunst im bürgerlichen Zeitalter die Religion zugleich ersetzt und beerbt hat, etwa in der Kunstfrömmigkeit der Goethezeit oder in der Kunstreligion des George Kreises. Um diese Kunstauffassung zu kritisieren, hält Benjamin ihren Anverwandlungen des Religiösen Kategorien einer „wirklichen Theologie“ entgegen, um deren Differenz zu markieren: So werden etwa im Wahlverwandtschaften-Aufsatz die Kategorien ästhetischer Schöpfung und Stellvertretung kritisiert, im Trauerspielbuch wird die Theorie des Symbols als Verzerrung eines eigentlich theologischen Symbolbegriffs kritisiert.

Theologie sieht Benjamin auch bei Kafka – aber eben Theologie auf der Flucht. Kafka denke zwar im Horizont des jüngsten Gerichts, so räumt er gegenüber Scholem ein, es sei aber eben die Frage, wie man „die Projektion des jüngsten Gerichts in den Weltlauf sich zu denken habe“, wer nämlich hier Richter oder Angeklagter, ob das Verfahren schon die Strafe sei etc. Kafkas Schreiben würde diese Fragen nicht entscheiden, sondern auf einen Weltzustand hinweisen, in dem sie keine Stelle mehr hätten, „weil ihre Antworten, weit entfernt, Bescheid auf diese Fragen zu geben, sie wegheben“. Auch bei Benjamin stehen sich jüngstes Gericht und Weltlauf inkommensurabel gegenüber wie bei Adorno und Scholem, auch hier bedarf es eines Projektionsverfahrens. Aber die Rede vom ‚Wegheben’ verschiebt diese Inkommensurabilität gerade durch ihren konkreten und anschaulichen, im eigentlichen Sinne gestischen Charakter – ein Charakter, der offensichtlich von Kafka inspiriert ist, denn im Zentrum von dessen Schreiben sah Benjamin bekanntlich das Gestische. Kafkas Gesten seien ein „Versuch, durch Nachahmung die Unverständlichkeit des Weltlaufs gegenstandslos oder seine Gegenstandslosigkeit verständlich zu machen“. Diese Differenz von Unverständlichkeit und Gegenstandslosigkeit wird gerade durch die Figur des Weghebens gemacht, welche das abstrakte und vollkommen konventionelle Verhältnis von Frage und Antwort unterläuft und in ein neues Licht stellt.

Benjamins Lektüre Kafkas konzentriert sich daher auf die Gesten und Bildfiguren Kafkas. Zu ihnen gehört etwa die Korruption, in der für Benjamin Scham und Schuld konvergieren: Die Verkommenheit einer Sumpfwelt, so Benjamin, bestimme Kafkas Welt, sowohl in der Korruptibilität des Gerichts als auch in der Verderbtheit der Familie. Sie bestimmt auch die theologische Dimension des Werkes, wenn es etwa heißt, das Recht sei bei Kafka gnadenlos, aber korrupt und die Korruption sei wohl das Sinnbild der Gnade. Oder wenn Benjamin an anderer Stelle notiert, der Bereich der Theologie gelte Kafka als „unanständig“. Und auch für das Verhältnis zur Tradition, zu Halacha und Haggada hat Benjamin ein ingeniöses Bild gefunden, wenn er schreibt, Kafkas Dichtungen seien „von Haus aus Gleichnisse“, doch stets auch „mehr als Gleichnisse: „Sie legen sich der Lehre nicht schlicht zu Füßen wie sich die Haggada der Halacha zu Füßen liegt. Wenn sie sich gekuscht haben, heben sie unversehens eine gewichtige Pranke gegen sie“. Auch hier greift Benjamin zu einem kafkaesken, ein wenig rätselhaften Gestus – zerstört die Pranke, warnt oder grüßt sie? –, der nun seinerseits zu unendlichen Überlegungen über das Verhältnis von religiöser und literarischer Tradition Anlass geben kann.

Benjamin spricht vom Verschwinden des Religiösen in der Moderne nicht einfach abstrakt, als vom ‚ganz Anderen’ oder auch vom ‚Nullpunkt’, sondern ganz konkret. Es ist zu einer Bildgestalt geworden, die ihr eigenes Leben annimmt, ein Leben das gerade nicht erhaben ist. Theologie kann gerade nicht in den großen Fragen und abstrakten Unterscheidungen wie Transzendenz und Immanenz, dieser oder jener Welt gesehen werden, sondern im Abseitigen, das den eigenen Diskurs nicht emphatisch auflädt, sondern eher ins moralische wie epistemologische Zwielicht rückt. Diese „Unanständigkeit“ der Theologie, aber auch die „Erkrankung der Tradition“, die Benjamin konstatiert, sollten davor warnen, theologische Konzepte einfach zu übernehmen.

Vergleicht man die drei Lektüren Adornos, Scholems und Benjamins mit jener Agambens, zeigt sich deutlich, wie problematisch und indirekt die Bezugnahme auf religiöse Kategorien ist. An die Stelle ihrer Übertragung treten Figuren wie die Inversion, die Projektion oder eben die Geste. Aus der Komplexität kann man vielleicht auch etwas für den gegenwärtigen Umgang mit solchen Kategorien lernen. Jedenfalls zeigen sie auch noch einmal das Potential von Kafkas Texten in diesem Kontext. Märchen für Dialektiker habe Kafka geschrieben, so Benjamin, und zwar nicht Märchen, die irgendwie dialektisch zu deuten sind, sondern an denen sich dialektisches Denken schulen kann. Wenn daher heute die Dialektik von Säkularität und Religiösität wieder wichtig wird, so geht es auch hier weniger darum, neue religiöse Deutungen von Kafka zu entwickeln als seine Texte zu nutzen, um zu durchdenken, was für uns Religion sein kann.

Der Beitrag greift auf einen Vortrag während der von Manfred Engel und Ritchie Robertson veranstalteten Tagung „Kafka, Religion, and Modernity“ (Oxford, 24.-26.9. 2012) zurück.