Der Gimpel

„Das perfekte Spiel“: Herbert Genzmer erzählt vor dem Hintergrund des deutschen Wirtschaftswunders die Lebensgeschichte eines Hochstaplers

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wann ist der Mensch ein Mensch? Nur da, wo er spielt, behauptet Schiller und – Felix Gidden. Wie der Schlawiner seinem Arzt im Altenheim erklärt, bleibe der Mensch „ohne die Befreiung, die ihm das Spiel gewährt, auf der untersten Entwicklungsstufe der Gattung“ stehen. Allerdings ist „Spiel“ für Gidden wenig mehr als ein Euphemismus für Betrug. Und seine „Spieler“, die „Auserwählten“, sind in Wahrheit Meister in der Kunst, den „Gimpeln“ Träume zu verkaufen.

Das allerdings, so viel Idealist ist dieser Bluffer aus Leidenschaft denn doch, auf eine möglichst lustvolle, „orientalische“ Weise. So wird es Gidden im türkischen Izmir von seinem Lehrmeister Selim Bay beigebracht. In einer herrlichen Passage in Herbert Genzmers Roman „Das perfekte Spiel“ schickt Bay seinen Schüler auf den Konak-Platz, wo er den Menschen die Zeit verkaufen soll. Wer immer zu Izmirs Wahrzeichen, der Saat Kulesi, dem maurischen Uhrturm, aufblickt, wird von Hassan Dirim alias Felix Gidden aufgefordert, für die angezeigte Uhrzeit zu bezahlen. Nach kurzer Irritation finden alle auf dem Platz seine Forderung legitim; schließlich gehört ihm ja die Uhr, wie Dirim-Gidden mittels gefälschter Dokumente beweisen kann. Es dauert keine Woche, und es findet sich sogar ein Gimpel, der Gidden sein „Eigentum“ abkauft.

Also ein liebenswerter Hochstapler à la Felix Krull? Mit Thomas Manns Figur hat Gidden zwar tatsächlich mehr als nur den Vornamen gemein, doch erinnert er ebenso an Patricia Highsmiths talentierten Mr. Ripley. Wer immer dem Paranoiker gefährlich werden könnte, wird von ihm skrupellos aus dem Weg geräumt. Viele Mitwisser hat Gidden nicht: Als Solitär ist er sich selbst der beste Ratgeber, und als menschliches Chamäleon verbringt er die meiste Zeit in seinem Hotelzimmer, wo er für seine Betrügereien Sprachen lernt und Rollen einstudiert.

Ein schillernder Protagonist also, dessen Erfinder einst über „Lügenstrategien in Deutsch, Englisch und Spanisch“ promovierte. Genzmer, der dieses Jahr sechzig wurde, ist ein ungemein vielseitiger Autor, der schon linguistische Sachbücher vorlegte, literarische Reiseführer sowie Romane, die mit ihrer Erzähl- und Detailfreude ihre Vorbilder aus der US- und lateinamerikanischen Literatur nicht leugnen können. Gekonnt wechselt Genzmer im neuen Werk zwischen Ich- und Er-Perspektive und springt temporeich durch die rastlose Lebensgeschichte seines Helden. Und wie schon in seinen früheren Werken spielt auch „Das perfekte Spiel“ vor internationalen Kulissen: Das vom Wirtschaftswunder wieder erblühende Düsseldorf ist nur der Ausgangspunkt für eine abenteuerliche, süffig erzählte Lebensreise.

Sie führt den kleinen Gelegenheitsgauner Gidden, nachdem er um 1955 die ersten Gastarbeiter in die Bundesrepublik geschleust hat, aufgrund einer vermeintlichen Namensverwechslung zuerst nach Istanbul. Dort soll er im Auftrag des Industriellen Johannes Gidden dessen Ehefrau suchen und deren Spielschulden begleichen. Die obsessive Suche nach dieser geheimnisvollen Barbara Gidden wird zur einzigen Schwäche des Protagonisten, der nach seiner Hoch-Zeit als „Regenmacher“ Dr. Johann Schneider in Spanien langsam in die Jahre kommt. Mit dem anbrechenden Computerzeitalter kommt Gidden nicht mehr zurecht; alt geworden, schlägt er sich am Ende wieder mit kleinen Tricksereien im Altenheim durch. Dort erst soll er erfahren, warum er sein Leben lang nur der Gimpel eines weitaus besseren Spielers war, besser gesagt: einer Spielerin, die in ihrem Hass auf die Deutschen auf raffinierte Weise die Saat für künftige soziale Spannungen säte. Ein gelungenes Lesevergnügen – würden den bis dahin so leichtfüßigen Roman nicht plötzlich bedeutungsträchtige Themen wie Menschenhandel und die wohl unvermeidlichen Nazis bleischwer werden lassen.

Titelbild

Herbert Genzmer: Das perfekte Spiel. Roman.
Berlin University Press, Berlin 2012.
360 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783862800223

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch