Ein Überdruss an Glück

Matthias Zschokkes erzählt in „Der Mann mit den zwei Augen“ von einem einsamen, geradezu heroisch misanthropischen Menschen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der Mann mit den zwei Augen“, allgemeiner und nichtssagender lässt sich ein Protagonist nicht charakterisieren. Doch es gibt über ihn tatsächlich nichts Auffälliges zu berichten. Selbst der Friseur hat darauf zu achten, denn „[der] Kopf soll Ausgeglichenheit ausstrahlen, Vertrauenswürdigkeit, so dass niemand, der mich sieht, anfängt, sich Gedanken zu machen über mich oder darüber, wie es in mir drin ausschaut, am allerwenigsten ich selbst“. Letzteres ist besonders zu bedenken.

Dem Mann ist die Frau weggestorben, mit der er viele Jahre zusammenlebte. Trotzdem wüsste er von ihr kaum Nennenswertes zu berichten. Ja sie hatten es die ganze Zeit sogar versäumt, sich das Du anzutragen. Sie las, er nicht, dazwischen lag eine Kluft. Er schrieb Gerichtsreportagen, sie hatte keine Bildung, worüber sollten sie da reden. So blieben sich der Mann mit den zwei Augen und die Frau all die Jahre in vertrauter Innigkeit fremd. Nun ist sie tot – er aber spürt „geradezu einen Widerwillen gegen das Außergewöhnliche“. Deshalb wahrt er um jeden Preis die Contenance und entschließt sich, aus der Stadt zu flüchten, in einen Ort namens Harenberg. Hier hofft er, „als Überflüssiger“ nicht gebraucht zu werden. In der Kneipenwirtin Rosaura findet er ein wunderbares Medium, das ihn täglich begrüßt und ihn dabei nie wiedererkennt. Bei ihr ist der Mann mit den zwei Augen in der Unscheinbarkeit angekommen. Darin besteht sein Abenteuer, glaubt er, denn warum sollte es spannender sein, etwas zu verbergen, „als nichts zu verbergen“? Trotzdem kann er keinesfalls unglücklich genannt werden.

Zschokkes Roman erzählt von einem Menschen, dessen unendliche Trägheit auf den Roman selbst überspringt. Nichts scheint darin zu passieren, und dennoch wirkt diese Prosa hellwach und stets auf dem Sprung – doch wohin?

Die titelgebende Charakterisierung variiert Zschokke mit einem Diktum aus dem Koran, wonach der Mensch zwei Ohren habe zu hören, doch nur eine Zunge zu sprechen. Und, ließe sich ergänzen: Er hat zwei Augen, um wahrzunehmen. Dementsprechend verhält sich sein Protagonist weitgehend passiv. Er ortet, lotet aus und zieht aus nichts keine Schlüsse. Gerade darin ist er heroisch: Repräsentant einer melancholischen Conditio humana, die Werten wie Liebe, Vertrauen, Zusammenleben mit größtem Misstrauen begegnet, weil sie nichts zu bedeuten haben. Auch der Beischlaf gerät ihm zur mechanischen Praxis.

Das klingt ausgesprochen pessimistisch, ja gar sarkastisch. Zschokke zeigt sich hier von einer finstern Seite wie seit langem nicht mehr. Der Lebensüberdruss des Mannes mit den zwei Augen, für den dieser selbst keine Erklärung anzugeben wüsste, erinnert an die „Piraten“ aus dem gleichnamigen Roman von 1991, die ihre wilde Entschlossenheit abgelegt haben und bloß noch im Wind dahin dümpeln. Ihre Verdüsterung klingt nach.

Der Mann mit den zwei Augen zeichnet sich aus durch seinen untrüglichen Blick für den täglichen Wahnsinn. Aus seiner Optik erscheint das Gezerre und Gerenne lächerlich. „Wir wissen schließlich alle das Gleiche, erleben das Gleiche, sehen das Gleiche – was soll da einer noch viele Worte machen?“, lässt er ausrichten. Er bringt Sachverhalte mit verfänglich einfachen Worten auf jenen Punkt, an dem sich der Überdruss kristallisiert. Jedoch bedeutet das nicht, dass diese Prosa nicht auch Witz verriete, und nicht zum Lachen reizte. Immer wieder stößt Zschokke das Tor zu tragikomischen Szenen und grandiosen Anekdoten auf. Ab und an kann sich der Mann Seitenhiebe nicht verkneifen, die unmerklich den gerührten Autor selbst verraten. Meist aber wahrt der Mann die Nonchalance des Ungerührten. Der komische, langweilige Tapir im Zoo wird sein Wappentier.

„Ich lebe auswendig“, sagt der Mann einmal, der Körper wiederhole bloß, was er schon kann. In diesem Bekenntnis liegt seine Wahrhaftigkeit. Unter diesen Umständen gehört einiges dazu, „sich selbst ein Leben lang aushalten“ zu können. „Jede Kunst braucht einen Funken Verwegenheit“, die auch die Möglichkeit des Scheiterns mit einschließt, führt der Mann einmal ins Feld. So wenig der Satz auf ihn selbst zutrifft, so sehr gilt er für Zschokkes Prosa. Ihr träge mäanderndes Dahinfließen, das hin und wieder auch schnöde gegen das Gebot der formalen Perfektion verstößt (wem gehört die Erzählerstimme?), erzeugt einen Sog, von dem sich die Lektüre sachte treiben lässt. Die Illusionslosigkeit ist ebenso radikal wie beruhigend.

„Wir leben ein schlechteres Leben aus Angst, ums bessere könnte man uns beneiden, das bessere könnte uns gestohlen werden“. Deshalb wählt der Mann mit den zwei Augen ein gutes Leben ohne diese Angst. Ist das besser? Es bleibt dem Leser überlassen, die eigenen Schlüsse zu ziehen, Zschokkes Protagonist gibt keine Antworten. So klingt das Buch prosaisch in der Harenberger Kneipe aus, mit einer Reminiszenz an Büchners „Lenz“-Novelle: „Und so lebten sie hin…“ – ganz ohne Not, denn das Leben ist im Kern so oder so ein einziges Dahin.

Titelbild

Matthias Zschokke: Der Mann mit den zwei Augen. Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
244 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311114

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