Wenig Neues vom alten Fontane

Eine Aufsatzsammlung wird ihrem selbstgestellten Anspruch, "new approaches" zu präsentieren, nur bedingt gerecht

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zunächst ist das Interesse der US-amerikanischen Germanistik an der Fontane-Forschung positiv hervorzuheben. Bücher wie das vorliegende sind stets auch Zeichen und Instrumente von Kulturvermittlung. Sieht man die Publikation aber ganz neutral im Kontext der boomenden Fontane-Forschung und fragt man nach ihrem Erkenntniswert, dann wird das Ergebnis deutlich weniger positiv ausfallen.

Zunächst ist festzustellen, dass die durch den Titel geweckte Erwartung, man erhalte einen Einblick in die neuere Fontane-Forschung, enttäuscht wird. Es handelt sich ganz konventionell um eine Sammlung von Aufsätzen, die sich mit ausgewählten Werken Fontanes unter besonderen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Die zu diesem Zweck berücksichtigte Literatur ist ausreichend, wenn man vom Buchtitel absieht; angesichts der angesprochenen Erwartungen wirkt die Materialbasis aber eher dünn. Zahlreiche wichtige neuere Forschungsarbeiten sind nicht berücksichtigt worden, etwa die gelungenen Monographien von Hugo Aust, Cord Beintmann und Gordon A. Craig, von Spezialliteratur zu einzelnen Werken ganz abgesehen. Auch ältere Standard-Literatur ist nur in Auswahl berücksichtigt worden, beispielsweise gibt es keinen einzigen Nachweis zu den beiden derzeit wohl bekanntesten Fontane-Experten (mit umfangreicher diesbezüglicher Publikationsliste), Christian Grawe und Helmuth Nürnberger. Wie aber will man "neue Zugänge" bei Fontane finden, wenn man die älteren bis neueren gar nicht kennt und nicht weiß, was schon da ist?

Die Einleitung verstärkt den wenig positiven ersten Eindruck, dass es sich um Etikettenschwindel handelt. Herausgeberin Marion Doebeling konfrontiert uns mit einer These, die bis ins 19. Jahrhundert zurück reicht und hier als neue Erkenntnis präsentiert wird: aus Fontanes Romanen ließe sich mehr über preußische und deutsche Reichs-Historie lernen als aus Geschichtsbüchern. Abgesehen davon, dass eine solche Behauptung angesichts der methodischen Entwicklung der Germanistik seit 1945 nur mit Kopfschütteln gelesen werden kann, ist festzustellen, dass Doebeling ihren Gewährsmann Fontane hier gründlich missverstanden hat. Mit entsprechenden Aussagen ging es Fontane ausschließlich um poetologische Fragen. Über das Zu-ernst-Nehmen seiner Texte hat er sich amüsiert, man denke an seine Schadenfreude über eine Reisegruppe, die aufbrach, das (erfundene) Schloss Wuthenow zu besichtigen.

Alter Wein in neuen Schläuchen: Gegen die Banalität und das Althergebrachte der aufgestellten Thesen hilft auch modernes Vokabular nicht (die Rede ist von "Codes", "Netzwerken" etc.). Ein abschließendes Beispiel: "Despite the legacy of the deconstruction of meaning ever since post-structuralism and post-modernism, we, as literary scholars and critics of late twentieth-century Western culture, are still responsible for communication." Abgesehen davon, dass Doebeling beim Versuch, einen Bezug zu allem und jedem herzustellen, der Bezug zu Fontane verloren gegangen ist - überschätzt sie ihre eigene Rolle nicht etwas, schon gar angesichts einer Publikation, die nur eine Handvoll Spezialisten erreichen wird?

Sieht man vom nicht erfüllbaren Anspruch des Titels und der Einleitung ab, dann sind fast alle der versammelten Aufsätze interessante Lektüren. Horst Turk beschäftigt sich mit "Schach von Wuthenow", wertet zurecht Victoire auf und beschreibt die Beziehungen der Figuren untereinander mit Blick auf allgemeine Fragen menschlichen Zusammenlebens im 19. Jahrhundert, die er stärker in über-nationalen kulturellen Kontexten verortet sehen möchte. Ernst Hannemann nutzt gewinnbringend Theoreme Foucaults, um am Zusammenhang von "social position and bodily condition" das für die Zeit Skandalöse und Neue der Handlung von "Stine" zu beschreiben. Auch "Effi Briest", "Cécile", "Irrungen, Wirrungen", "Der Stechlin" und "Grete Minde" werden (nur warum in dieser Reihenfolge?) gewinnbringend wiedergelesen.

Ärgerlich ist hingegen Doebelings Beitrag über Fontanes England-Reiseberichte. Eingangs wird behauptet, diese Texte hätten selbst in der zeitgenössischen ("contemporary") Fontane-Forschung bisher fast kein Interesse erregt, belegt wird dies mit dem Hinweis auf einen Aufsatz von 1975! Dabei hat es seither eine größere Zahl von Versuchen gegeben, gerade diese Texte neu zu lesen, literar- und werkhistorisch einzuordnen. Doebeling weist nicht einmal auf den Aufsatz von Clifford Albrecht Bernd hin (in "Modern Language Review"-Band 87 von 1992), obwohl sie, die Herausgeberin, Bernd den vorliegenden Band gewidmet hat. An Beispielen aus Fontanes Reiseberichten wäre außerdem leicht die zentrale These des Beitrags zu widerlegen, es handele sich nicht mehr um Versuche, die Totalität der Welt am Beispiel abzubilden. Genau das Gegenteil ist der Fall, das Besondere verweist in diesen Reiseberichten stets auf das Allgemeine und Allgemeingültige. Das festgestellte "Impressionistische" des Stils ist nichts Neues, Heinrich Heines mehrere Jahrzehnte ältere "Reisebilder" beispielsweise waren in dieser Hinsicht wesentlich radikaler.

Titelbild

Marion Doebeling (Hg.): New Approaches to Theodor Fontane. Cultural Codes in Flux.
Camden House, Columbia / USA 2000.
180 Seiten, 71,60 EUR.
ISBN-10: 1571131434

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