Was ist Literatur?

Silvio Viettas kundige Anthologie der europäischen Poetik

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist Literatur? Was ist Schreiben? Warum Schreiben? Jean-Paul Sartres berühmte Abhandlung „Qu’est-ce que la littérature?“ (1947) formuliert die Grundfragen der Poetik, die sich seit der Antike durch die europäische Kulturgeschichte ziehen. Der Hildesheimer Literaturwissenschaftler Silvio Vietta hat zentrale Texte der Poetik in einer Anthologie versammelt, in sechs Kapiteln kundig kommentiert und umsichtig in die Epochenzusammenhänge eingebettet.

Die abendländische Poetik beginnt mit Platons Enthusiasmus-Theorie vom musenbefeuerten Dichter auf der einen und der nüchternen aristotelischen Nachahmungslehre auf der anderen Seite. Die platonische Linie setzt sich fort bei den Verteidigern der dichterischen Fantasie (Dante, Shaftesbury, Bodmer, Mallarmé und andere), auf der aristotelischen Linie liegt die Betonung der Handwerklichkeit des Dichtens (Harsdörffer, Gottsched, Zola und anderen). Ästhetik gegen Rhetorik also; Vorbild für die Syntheseversuche ist Horaz, der von der Dichtung Nutzen oder Freude erwartete – oder eben beides. Im Zeitalter der Klassik dient die Poetik der anthropologischen und zugleich ästhetischen Begründung von Gattungen, der psychologisch fundierten Tragödie bei Lessing, dem Bildungsroman bei Goethe; aufschlussreich ist Goethes und Schillers Briefdiskussion über den „Wilhelm Meister“. In der Romantik wird die Poetik europäisch (Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé), in der Moderne surrealistisch (Breton), erzählreflexiv (Musil), urban (Döblin) und experimentell (Brecht). Für die Poetik aus dem Zeitabschnitt der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur stehen Texte von Sartre, Handke, Wellershoff, Cixous, Barthes, Eco, Gernhardt und Herbst Pate. Sie geben einen großen Ausschnitt der poetologischen Diskussion wieder. Natürlich kann man sich fragen, warum etwa Benns Marburger Vortrag über die Probleme der Lyrik und Celans „Meridian“-Rede fehlen und wo Raum für die Frankfurter Poetikvorlesungen ist, die in Paul Michael Lützelers Sammelband über die „Poetik der Autoren“ (1994) kommentiert sind; ein Literaturverzeichnis fehlt denn auch.

Silvio Viettas Band ist ein verlässlicher Führer durch die Geschichte der Poetik, ein poetologisches Lesebuch, das zeigt, wie das Schreiben über Literatur das literarische Schreiben fundiert, und vielfache Antworten liefert auf die Fragen nach der Fantasiekraft und der Logik der Dichtung.

Titelbild

Silvio Vietta (Hg.): Texte zur Poetik. Eine kommentierte Anthologie.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2012.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783534232772

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