Wechsel in die epische Breite

Reinhard Kaiser-Mühleckers Roman „Roter Flieder“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich brauchte diese epische Breite. Es dauerte seine Zeit, zehn Jahre, bis man sich gewissen Fragen stellen kann. Es ist eine Antwort auf die eigene Unruhe. Eine zwanghafte Antwort, um dieser Unruhe zu begegnen“, erklärte der 30-jährige österreichische Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker im Vorfeld der Veröffentlichung seines vierten Romans.

Zwar gibt es reichlich Berührungspunkte mit den Vorgängerwerken („Der lange Gang über die Stationen“, 2008, „Magdalenaberg“, 2009 und „Wiedersehen in Fiumicino“, 2011), doch diesmal hat der aus dem bäuerlich geprägten oberösterreichischen Kirchdorf an der Krems stammende Autor erzählerisch viel weiter ausgeholt, ist von seiner lakonischen Sprache abgewichen und hat auf die Nähe stiftende Funktion des Ich-Erzählers verzichtet.

Kaiser-Mühlecker wählt eine leicht distanzierte Beobachterperspektive für seine opulente, drei Generationen umspannende bäuerliche Familiensaga. Die Handlung beginnt am Ende des Zweiten Weltkriegs im Innviertel. Wir begegnen dem Partei-Ortsgruppenführer Goldberger, der mit seiner später verstummenden Tochter Martha nach Magdalenaberg zwangsumgesiedelt wird und dort einen leerstehenden Hof zugewiesen bekommt. Sympathien schlagen ihm nicht entgegen, seine Tochter wendet sich von ihm ab, nicht anders sein aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrter Sohn Ferdinand. Nach langer Anlaufphase heiratet der Familienpatriarch schließlich die Dorfwirtin Elisabeth, alles andere als eine Liebesheirat, eher der Versuch, ökonomische Kräfte zu bündeln.

Der alte Goldberger hat Schuld auf sich geladen, hat gnadenlos denunziert und eine Erschießung in seinem politischen Einflussbereich nicht verhindert. Der Junior übernimmt den Hof, straft seinen Vater mit Verachtung, dennoch bleibt die Vergangenheit des alten Goldbergers ein Tabuthema. Sie wetteifern um Sympathien in der Familie, der Junior lässt den Hof boomen, schafft einen hochmodernen Maschinenpark an, was wiederum Neider in der Nachbarschaft auf den Plan ruft; der Vater erweist sich als ebenso tüchtiger wie gerissener Geschäftsmann, der mit einer Schottergrube ein stattliches Vermögen erwirtschaftet, das er später seinem Sohn schenkt. Als Akt der Wiedergutmachung, als Kompensation für die „vererbte“ familiäre Ächtung?

Reinhard Kaiser-Mühlecker setzt in seinem Epos stark auf bäuerliche Traditionen, auf religiösen Konservatismus und beinahe fanatischen Aberglauben. Die Kinderlosigkeit der dritten Generation (es rücken Thomas, Paul und deren Schwester Maria ins Zentrum) erhält hier den geheimnisvollen Anstrich eines durch Erbsünde ausgelösten Familienfluchs, unter dem vor allem die so ungleichen Brüder Thomas und Paul zu leiden haben.

Thomas ist dazu auserkoren, den Hof zu übernehmen und Paul wird in ein Internat geschickt. Es kann täuschen, aber man gewinnt mit fortschreitender Lektüre den Eindruck, dass Reinhard Kaiser-Mühlecker der ambivalenten Paul-Figur am nächsten steht. Ein junger Mann, der – wie er selbst einst – die ländliche Einöde der Bildung wegen verlassen hat und eigentlich ein „Ewig-Fremder“ bleibt. Paul landet nach ausschweifenden Alkoholexzessen am Ende als Asket in einer Mission in Bolivien, wo seine Gedanken aber auch häufig um Oberösterreich kreisen. „Woran er dachte, war nichts anderes als sonst; nur bekamen die Bilder nun eine andere Dimension.“ Mit der formalen Abkehr von der subjektiven und ganz stark autobiografisch gefärbten Wahrnehmungsprosa seiner ersten beiden Bücher will Kaiser-Mühlecker einen größeren erzählerischen Kosmos erkunden, dennoch wirkt seine Sprache am nachhaltigsten und intensivsten, wenn er die Personen ganz nah heranzoomt, wenn es leicht introvertiert und bisweilen auch egozentrisch klingt.

Der opulente Roman „Roter Flieder“ kreist um die Omnipräsenz der Vergangenheit, um vergebliche Neuanfänge und Fluchtversuche, um Verschweigen und Verstummen. Ein allzeit bewegendes Thema – in einem einfühlsamen Roman auf äußerst bedrückende Weise in Szene gesetzt. Reinhard Kaiser-Mühlecker ist nicht nur eines der größten Talente in der deutschsprachigen Literatur, sondern er hat schon früh eine absolut singuläre Stimme gefunden – mit einer wahrlich einzigartigen elegisch-melancholischen Hintergrundmelodie.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012.
622 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783455404234

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