Fluchtwege

Das Gefängnistagebuch Boris Vildés

Von Reiner NiehoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reiner Niehoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen von Menschen aus dem Gefängnis, gar vor der Hinrichtung, sind eine schwierige Sache. Unterscheiden sie sich von anderen Texten, die draußen vor den Mauern entstanden sind? Werden sie durch den Vorlauf in den eigenen Tod, der so nah ist, intensiver, komprimierter, essentieller, wahrer? Gibt es einen existentiell-textuellen Mehrwert hinter Gittern? Man mag zur Zustimmung neigen. Aber schriebe man nicht, wenn man mit Ja antwortete, der ausweglosen Situation eine Exklusivität zu, deren Absenz gerade durch die Situation dokumentiert wird?

Fragen, die sich sicher bei jedem Text stellen, der von jenseits der Gefängnismauern herkommt. Aber so unausweichlich und radikal wie im Fall von Boris Vildé drängen sie sich dann doch selten auf. Denn Boris Vildé – aus Russland emigriert, in Frankreich eingebürgert, mit reichlich Talent, Charme, Courage versehen, am Pariser Musee de l’ Homme angelandet – wird im März 1941 als Mitglied und Wortführer der Résistance von der deutschen Gestapo verhaftet. Zunächst wird Vildé ins Gefängnis La Santé verschleppt, anschließend in Fresnes in Isolationshaft weggeschlossen und nach einem verwunderlichen Prozess von Richtern, die kaum eine Schuld an ihm finden können, am 17. Februar 1942 zum Tode verurteilt. Sechs Tage später wird er hingerichtet, er ist 33 Jahre alt – wie Christus und Alexander der Große, Puschkin und Jessenin, merkt er an.

Hinterlassen hat Vildé ein Tagebuch, „Die Blätter aus Fresnes“, wie er es nennt, gefüllt mit kleinen Annotaten zu den widrigen Umständen seiner Haft, mit Selbstreflexionen, üppigen Lektüre-Rekapitulationen, philosophischen Aufzeichnungen, die sich der bald schon illusionslose Zellenbewohner in den langen Dunkelstunden der Haft langsam erschlossen hat – „es sind die hastig hingeworfenen Bezugspunkte meiner langwierigen und leidvollen Meditation“. Verfasst sind sie als eine Art Belenntnisschrift für seine Frau, Iréne Vildé-Lot.

Und ohne Frage: Nein, diese Aufzeichnungen besitzen keinen textuellen Mehrwehrt. In der Sache sind sie, mit Verlaub, eher unscheinbar; ein wenig seminaristisch, mit gehobenen Anspruch und beträchtlich theatral; das Tagebuch als innere Bühne. Es wäre übertrieben zu behaupten, hier schriebe jener bedeutende Ethnologe, als der Vildé ausgegeben wird. Die Gedanken zur Religion kommen nur knapp über Rudolf Otto hinaus und verharren bei Nietzsche, Bergson und, als Gipfelpunkt, bei dem Essay über das Opfer von Hubert und Mauss; das ist überschaubar. Und auch ein Philosoph ist nicht wirklich absehbar: Die theoretischen Überlegungen kreisen um die klassischen Oppositionen der hegelianischen Moderne: um die Widersprüche von Gefühl und Verstand, von Körper und Geist, von Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung, von Einzelnem und Allgemeinem, von Individuum und Gesellschaft mit einem Hauch von Tristan.

Dazu tritt das, was Vildé vermutlich aus dem Umfeld vom Musée de l’ Homme zugetragen sein dürfte: die Nähe von Mystik und Erotik und die Präsenz des Todes im petit mort des Geschlechts. Mit diesen Ingredienzien baut sich der Inhaftierte nun eine „spirituelle Autobiographie“ zusammen. Das Leben, nein: sein Leben, das heißt für Vildé: die eigene Indifferenz aufgeben und dank der „Großen Liebe“, die sich als ewige Sonne aus dem Abgrund des Todes erhebt, endlich Mensch zu werden. Auch das ist nicht eben unerhört, oft nicht einmal erquicklich. Lediglich in den Überlegungen zur Sprache kommt Neuesin den Blick, der französische Strukturalismus der Nachkriegszeit kündigt sich an. Viel ist das nicht, aber: darum geht es im letzten auch gar nicht.

Worum dann? Tatsächlich geht es in Vildés Blättern weniger um die manifesten Erkenntnisse seiner langen Tage und Nächte, als um die Gedanken-Bewegung, mit der die Erkenntnisse aufgesucht, gemustert, durchbuchstabiert werden. Es geht um ein Denken, das sich als Fluchtbewegung erfährt, ein Denken ohne Zielpunkt: Vildé verzichtet auf politische Beschwörungen und Beschwichtigungen. Es geht um ein Denken, das den inneren Raum in alle Richtungen hin ausmisst, das nach transitorischen Verankerungen sucht, nach Versicherungen, nach Schutz und Haltung im Augenblick der Auslieferung; Sprachen lernt Vildé im Gefängnis intensiv, griechische Grammatik und Sanskrit. Es geht um ein Denken, das seine eigenen Ränder abläuft, das resümiert und memoriert; ein Denken, das sich als Ritual, Meditation und Haltung versteht und das sich immer wieder auf den Punkt bringt: Maxime, Fragment, Aphorismus. „Raffungen“ sind sein Ideal, ein schöner Begriff.

Und es geht um ein Denken, das sich intensiv wie kaum irgendwo sonst durch die ausweglose Situation mit dem Traum konfrontiert sieht – zunächst als nächtliche Fluchtwunsch-Erfüllungen (die Mauern hinter sich lassen), dann zusehends als Sinnes-Erinnerungen (das Grün spüren, den Wind spüren) und endlich als Geborgenheits-Bilder (Irènes Gesicht sehen). So träumt der Traum sich endlich selbst, insofern Flucht und Erlösung im Traum als Trost zusammen fallen. Sollte Samuel Beckett für sein televisionäres Wunder „Nacht und Träume“ die Zellenhaft von Boris Vildé vorm inneren Auge gehabt haben? Zuzutrauen wäre es ihm.

Aber auch das ist im letzten ganz uninteressant. Was zählt: Vildés „Blätter von Fresnes“ sind eine Mischung aus Haltung und Ohnmacht, aus Dezentrierung und Konzentration, aus Entelechie und Arbitrarität, aus Haftraum und Traumraum; eine Mischung, die durch keine politische Durchhalteparole, durch keine geballte Faust, durch keine letzte Antworten zu einem Beruhigungstrunk entmischt wird.

Wenn Felix Philip Ingold Texte herausgibt, heißt es aufmerksam sein. Hier nicht anders. Boris Vildés „Trost der Philosophie“ ist ein großes Dokument der Fluchtbewegungen des Denkens – in einer großartigen Übersetzung.

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Boris Vildé: Tagebücher und Gefängnisbriefe.
Vowort von Dominique Veillon.
Übersetzt aus dem Französischen von Felix Philipp Ingold.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
200 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783882215984

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