„Rilke hat Schnupfen“

Kulturgeschichte als Mosaik: Florian Illies’ Jahrestagebuch erzählt aus dem Jahr 1913

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die klassische Geschichtsschreibung richtete ihren Blick auf die kleinen Dinge im großen Ganzen. Seit einigen Jahren hat die Kulturgeschichtsschreibung das Fernrohr sozusagen umgedreht. Die Epochenbücher von Hans-Ulrich Gumbrecht, Karl Schlögel, David E. Wellbery entdecken große Zusammenhänge im Kleinen. Zum Beispiel ausgehend von der Frage: Wie erzählt man ein Jahr? Den bislang spannendsten und lesenswertesten Versuch haben wir mit dem Buch „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ vor uns. Autor ist Florian Illies, der 2000 die „Generation Golf“ durchschaute und mittlerweile aus der Kulturredaktionsleitung der Zeit als Gesellschafter zum Berliner Auktionshaus Villa Grisebach gelangt ist.

Illies gliedert sein Buch monatsweise in zwölf Kapitel und lässt jeweils eine Parade alter Bekannter vornehmlich aus der Kultur auftreten. Regie über den Reigen pointiert erzählter, kaum mehr als maximal zwei Seiten umfassender Episoden führt ein Erzähler, der das Jahrhundert souverän überschaut, der genau weiß, wovon das Jahr erzählt, und der, weil der Leser dabei automatisch zum Mitwisser wird, diesem auch schon einmal ein joviales „unter uns (gesagt)“ zuraunen kann. Wir wissen ja, wie es weiterging – und dass sich die Jahresendnotiz von Käthe Kollwitz 1914 in ihr Gegenteil verkehrte: „Jedenfalls 1913 ist ziemlich harmlos verlaufen, nicht tot und schläfrig, ziemlich viel inneres Leben.“

Das ist auch schon alles an struktureller Kunst, die Florian Illies aufwendet, um aus einem einzigen Jahr, das sich nach den Worten des Autors ja nicht selber kennt, ein vielfacettiertes Epochenbild zu entwickeln. Die Protagonisten, die wir alle zu kennen meinen, gewinnen in der guten oder auch schlechten Gesellschaft, in die sie Illies’ Erzählkunst untereinander bringt, ein anderes, schärferes und konturenreicheres Profil als in den dickleibigen Biografien, die der bibliografische Anhang aufführt (darunter auch David Sarasons 1913 erschienene Anthologie „Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung“). Bei Illies begegnen wir der exzentrischen Affäre des Mediziners Gottfried Benn mit der Stadtnomadin Else Lasker-Schüler und beobachten, wie Oskar Kokoschka an seinem Meisterwerk arbeitet. Es entsteht auf einer Leinwand, die genau so groß bemessen ist wie das Bett, das er mit seiner schönen Geliebten Alma teilt, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler, und es trägt den vielsagenden Titel „Windsbraut“, den der Maler einem Spontanbesucher namens Georg Trakl verdankt.

Ein Beispiel für die Fantasiekraft von Begegnungen, die stattgefunden haben könnten, aber nicht nachzuweisen sind, sind die Episoden über drei Spaziergänger im Schlosspark von Schönbrunn. Der eine ist ein exilierter Marxist, der andere ein abgebrannter Akademiestudent, der dritte ein kroatischer Automechaniker. Stalin, Hitler und Tito werden die „übelsten Tyrannen“ des 20. Jahrhunderts. Und überhaupt ist der bevorstehende Weltkrieg der unheimliche Begleiter dieser Erzählchronik. Prophetisch klingt, was Robert Musil bei der Arbeit am „Mann ohne Eigenschaften“ notierte: „Ulrich sagte das Schicksal voraus und hatte keine Ahnung.“ Dergleichen gilt für viele der hier zitierten Zeitgenossen.

Franz Kafka ist ein sehr prominenter Gast des Jahres 1913, weidlich beschäftigt mit seinem „anderen Prozeß“ mit der Schreibsekretärin Felice Bauer. Derweil gehen die Majestäten jagen und klagen über schmerzende Hühneraugen, wenn sie beim Bankett aufstehen und einen Toast auf die bulgarische Königin aussprechen müssen. Franz Marc schickt Else Lasker-Schüler seinen ersten „Blauen Reiter“ und malt „Die Wölfe (Balkankrieg)“, während sich Picasso und Matisse blumige Besuche abstatten. Marcel Proust beginnt seine monumentale epische Erinnerungsarbeit, während der stets kränkelnde Rilke nach einem Leben mit der Kunst sucht. Die Genies werden nicht geschont. Thomas Mann zieht gegen seinen angeblich überteuerten Teppichhändler vor Gericht, Sigmund Freud klagt ein Honorar über einen ,analytischen‘ Spaziergang mit Gustav Mahler bei dessen Witwe ein.

Die letzte Majestät im Jahr 1913 ist die gestohlene Mona Lisa, die überraschenderweise im Dezember wiederauftaucht. Ein Italiener mit dem sinnigen Kunstnamen „Leonardo“ hatte das Gemälde für sein Herkunftsland retten wollen. Er bekam sieben Monate Gefängnis, das Bild hing einen Tag lang in den Uffizien, die Kinder hatten schulfrei, und wurde dann in einem Luxuszugabteil in den Louvre zurückgebracht.

Wien, Berlin, München und Paris sind die Kraftzentren des Jahres, in dem auch New York, wo der größte Bahnhof der Welt entsteht, Afrika, wohin der junge Ernst Jünger kurzzeitig als Fremdenlegionär gelangt, und die Südsee vorkommen, wo Emil Nolde den Zivilisationsaussteiger und Kokosnussfanatiker August Engelhardt besucht, den Florian Illies blitzlichtartig so auftreten lässt, wie wir ihn aus Christian Krachts Roman „Imperium“ kennen. Die geheime Krankheit des frühen Jahrhunderts ist die „Neurasthenie“, eine Krankheit ohne strenge pathologische Diagnose. Sie symbolisiert die Versuche, das Leiden an der Moderne zu beschreiben, im medizinischen Selbstversuch. Schon Rilkes Schnupfen ist ein erstes Symptom für den Burnout der Moderne. Wusste der Arzt, was er tat, als er dem Bibliothekar II. Klasse an der Wiener Technischen Hochschule Robert Musil „Neurasthenie unter Mitbeteiligung des Herzens“ attestierte? Mit Beteiligung des Herzens hatte Musils Roman jedenfalls den „Sommer 1913“ besser gemacht, als er tatsächlich war. Keine Rede von einem meteorologischen Hoch! Es war also die Literatur, die den „Sommer des Jahrhunderts“ gestiftet hat.

Florian Illies’ Buch ist mehr als eine „Geschichtsschreibung aus dem Geist der Tageszeitung“ (Gustav Seibt), mehr als ein „Avantgarde-Almanach“ (Alexander Wallasch). Es ist ein wundervoll erzähltes Wimmelerzählbuch mit Mosaiksteinen aus einem Schlüsseljahr des 20. Jahrhunderts.

Titelbild

Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2012.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100368010

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