Unter der Oberfläche

Eric R. Kandel beschreibt die Wahrheitssuche in Kunst und Wissenschaft der Moderne.

Von Stefana SabinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefana Sabin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hätte, sagte Eric Kandel einmal, den Nobelpreis für Medizin, der ihm 2000 zugesprochen wurde, als amerikanischer Wissenschaftler entgegengenommen, aber in seinem Herzen sei er immer Wiener geblieben. In seinem neuen Buch kehrt Kandel in seine Geburtsstadt zurück und macht Wien als Ur-Ort der Moderne aus. Denn wie nirgends sonst hat in Wien um 1900 ein fruchtbarer Dialog zwischen Medizin und Kunst stattgefunden, so dass Dichter und Künstler mit Erkenntnissen der beginnenden Gehirnwissenschaft und der Emotionsforschung vertraut waren und sie ästhetisch zu verarbeiten versuchten. Dieser Dialog wurde im Salon von Berta Zuckerhandl beispielhaft geführt, Gattin des Anatomen Emil und Schwägerin des Chirurgen Otto Zuckerhandl, wo Gustav Klimt, Arthur Schnitzler, Sigmund Freud regelmäßig verkehrten und wo also ein reger intellektueller Austausch von ästhetischen und medizinischen Weltdeutungen stattfand.

Gustav Klimt, Artur Schnitzler und Sigmund Freud sind die Helden von Kandels Erzählung: Klimt hat hinter die mondäne Inszenierung in die emotionale Befindlichkeit seiner Modelle geschaut und Angst, Aggression, Begehren in Farbe und Form übersetzt. Schnitzler hat hinter dem gesellschaftlichen Handeln unbewusste Triebkräfte erkannt und diese im Agieren seiner Figuren dargestellt; Freud hat hinter den somatischen Krankheitssymptomen seiner Patienten ein psychisches Geschehen vermutet und dieses zu verstehen versucht. Klimt, Schnitzler und Freud hätten, so Kandel, sich mit „unter der Oberfläche verborgenen Wahrheiten“ auseinandergesetzt, diese – ob mit Farbe, mit Wörtern oder mit psychologischen Mitteln – ans Licht bringen wollen und damit das „Zeitalter der Erkenntnis“ eingeläutet.

Kandels Zeitalter der Erkenntnis beginnt in Wien um 1900, und die Erkenntnisse, die seine Helden dort gewonnen haben, prägen bis heute unser Verständnis von der Welt und von uns selbst. Vor allem Freud, dessen psychoanalytische Einsichten in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Zweifel gezogen wurden und dessen noch naive Kartografie des Gehirns belächelt wurde, wird von Kandel zum Kronzeugen der Neurowissenschaft gemacht. „Sigmund Freund hat als Erster darauf hingewiesen, dass ein grosser Teil unseres geistigen Lebens unbewusst verläuft und für uns nur aus dem begrenzten Blickwinkel des Bewussteins sichtbar ist. Jüngere Theorien über die Existenz von mehreren unterschiedlichen Formen unbewusster Funktionen gehen weit über Freud hinaus, beschreiben dabei aber häufig Wege, die er selbst bereits vorhersah.“ Darüber hinaus gilt Kandel Freud als ein besonderes Beispiel jener Symbiose zwischen Medizin und Kunst, nach der er sich selbst sehnt.

Denn Kandel will mit seinem Buch „einen Dialog zwischen Naturwissenschaft und Kunst in Gang setzen“, wie er zu Beginn der Moderne stattfand. Kandel glaubt, dass dieser Dialog beiden Seiten zugutekommt, weil die Kunst Erkenntnisse der Wissenschaft integrieren und die Wissenschaft ihrerseits die Hinweise der Kunst verwenden könne. Zwar gesteht Kandel ein, dass sich die Wirkung, die ein Gemälde hervorruft, nicht ausreichend durch die Beschreibung des neuronalen Verarbeitungswegs erklären lässt, aber er meint, dass die Aktionen und Reaktionen, die im Gehirn passieren, zum besseren Verständnis der Kunstproduktion und der Kunstbetrachtung führen.

„Künstler und Wissenschaftler,“ so Kandel, „sind gleichermassen Reduktionisten, doch sie erfahren und erklären sich die Welt auf unterschiedliche Weise. Wissenschaftler erstellen Modelle von elementaren Merkmalen der Welt, die sie prüfen und umformulieren lassen […]. Künstler erstellen ebenfalls Modelle der Welt, aber statt empirischer Annäherung schaffen sie subjektive Eindrücke der mehrdeutigen Realität, der sie in ihrem täglichen Leben begegnen.“

So beschreibt Kandel malerische und schriftstellerische Strategien, erläutert die hirnphysiologischen Prozesse des Sehens und die neuronale Agitation, welche Emotionen kennzeichnen, und schlägt einen großen Bogen vom damaligen zum heutigen Wissen über das Funktionieren des Gehirns. Aber so flüssig die Passagen über die Wiener Kunst- und Kulturszene auch sind, so komplex bleiben die Erklärungen der Informationsverarbeitung im Gehirn; die leichte, geradezu amüsante Lektüre geht unmerklich über in eine wissenschaftliche Darstellung.

So wirft Kandels Buch eine grundsätzliche Frage auf: ob eine erzählende, auf Allgemeinverständlichkeit angelegte Darstellung derart komplexe Sachverhalte wie diejenigen der Neurowissenschaft (oder der Genetik) dem wissenschaftlich interessierten Laien noch nachvollziehbar machen kann. Kandel ist ein begabter Schriftsteller, der mit einer beeindruckenden narrativen Energie und einem ebenso beeindruckenden pädagogischen Ethos erzählt, und dennoch kann er die Physiologie des Gehirns und die unmittelbaren Zusammenhänge zwischen der passiven Betrachtung eines Gemäldes und den aktiven neuronalen Feuerwerken nicht verständlich machen. Zurück bleibt ein vager Eindruck, dass die medizinische Forschung das intuitive Wissen Klimts und Schnitzlers über das emotionale Erleben bestätigt und dass die Neurowissenschaft Freuds umstrittene Befunde über das psychische Geschehen versachlicht und präzisiert hat – der Eindruck, dass Kunst und Wissenschaft aus „verschiedenen Blickwinkeln“ den menschlichen Geist betrachten.

„Ein Hirnscan kann vielleicht die neuronalen Anzeichen einer Depression enthüllen, aber eine Sinfonie von Beethoven enthüllt uns, wie sich die Depression anfühlt.“ Um das Wesen des Menschen zu erfassen, braucht man also beides – das Hirnscan und die Sinfonie. Kandels Anliegen ist es, den in Wien um 1900 so fruchtbaren Dialog zwischen den zwei Kulturen wiederaufzunehmen. Ob dieser Dialog angesichts der Wissensunterschiede heute noch möglich ist, bleibt fraglich.



Titelbild

Eric R. Kandel: Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute.
Mit zahlreichen farbigen Abbildungen.
Übersetzt aus dem Englischen von Martina Wiese.
Siedler Verlag, München 2012.
692 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783886809455

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