Spuren eines beschädigten Lebens

Siegfried Kracauers Untersuchungen zu Film und Propaganda

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Emigration, das beschädigte Leben“, schrieb Theodor W. Adorno 1959, habe „übers Maß hinaus“ seine Bücher verunstaltet. Seinem Freund Siegfried Kracauer, den er 1938 als „Emigrationsopfer“ charakterisierte, lösten sich nicht nur die Bücher auf der Flucht vor den nationalsozialistischen Schergen auf, wenn sie nicht ganz verloren gingen. Auch nach dem Ende des Nazi-Regimes wurde sein Werk in Deutschland zunächst verstümmelt. Sein Buch „From Caligari to Hitler“, das 1947 in den USA erschienen war, wurde im Rahmen der Reihe „rowohlts deutsche enzyklopädie“ (rde) 1958 veröffentlicht, wobei diese Ausgabe nicht mehr viel mit dem Original verband. „Es fehlten ganze Passagen des Textes“, resümierte der Filmhistoriker Hans Helmut Prinzler später, „es fehlten ein Anhang, das Vorwort und die zum Verständnis des Werkes wichtigen Abschnitte der Einleitung. Leute, die das Original kannten, sprachen damals von Verfälschung, und der Herausgeber der Neuausgabe, Karsten Witte, der zusammen mit Ruth Baumgarten das Buch auch gründlich neuübersetzt hat, trifft den Nagel sicher auf dem Kopf, wenn er in seinem Nachwort diese verlegerische Missgeburt zu den Opfern des in der Adenauer-Ära weitverbreiteten ‚Nestbeschmutzer‘-Syndroms zählt.“

Der Anspruch der „rde“ war laut ihres Herausgebers Ernesto Grassi, „das Wissen des XX. Jahrhunderts im Taschenbuch“ zu versammeln und „jedem geistig Interessierten alle Gebiete der Wissenschaft durch ihre angesehensten Vertreter“ zu erschließen. In der offiziellen Verlagschronik des Rowohlt Verlages zu seinem hundertjährigen Bestehen im Jahre 2008 wurde zwar das Projekt „rde“ als „zweite Aufklärung“ gefeiert, doch kein Wort über die Verstümmelung des Caligari-Buches verloren.

Erst in den 1960er-Jahren, als der Suhrkamp Verlag frühe Texte Kracauers aus seiner Weimarer Zeit in den Essaybänden „Das Ornament der Masse“ (1963) und „Straßen in Berlin und anderswo“ (1964) neu herausbrachte, wurde Kracauer als kritischer Beobachter der sich formierenden Massenkultur wieder entdeckt. In den 1970er-Jahren edierte schließlich der früh verstorbene Filmwissenschaftler Karsten Witte die Schriften Kracauers, die nun als Grundlage einer neuen kritischen Werkausgabe dienen. Im zweiten Band dieser Edition erscheint der Caligari-Text in einer überarbeiteten Übersetzung.

Für Kracauer reflektierten die Filme einer Nation ihre Mentalität unmittelbarer als andere künstlerische Medien, und in der Entwicklung imaginärer Tyrannenfilme von Caligari über Mabuse und Nosferatu bis zu den präfaschistischen Filmen Fritz Langs in den frühen 1930er-Jahren sah Kracauer Deutschland im Würgegriff eines reaktionären Autoritarismus. Unfähig, sich vom undemokratischen Alp des Wilhelminismus zu befreien, wirkte der Untergang des Kaiserreichs wie ein Schock der Freiheit, von dem sich das fragile Gebilde des demokratischen Systems bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten nie erholte. „Rettungslos der Regression verfallen konnte der Großteil des deutschen Volkes nicht anders“, resümierte Kracauer, „als sich Hitler zu unterwerfen.“ In Kracauers Augen nahm das Kino das Unheil im schwarzen deutschen Grund vorweg. „Es war alles, wie es im Film gewesen war“, schließt er. „Auch die dunklen Vorahnungen von einem endgültigen Untergang wurden erfüllt.“

An Karl Grunes Film „Die Straße“ (1923) exemplifiziert sich für Kracauer der Weg von der Auflehnung zur Unterwerfung. Die Straße erscheint als Gebiet des Chaos, in dem das Gesetz des Dschungels herrscht und aus dem sich der kleinbürgerliche Protagonist in die Obhut der Autorität flüchtet. Für Kracauer geht die Ächtung der Anarchie einher mit der Verherrlichung der Polizei. Augenfällig ist hierbei, dass sich in den späten dreißiger Jahren – wie Miriam Bratu Hansen in ihrer posthum publizierten Studie „Cinema and Experience“ (2012) hervorhob – bei Kracauer eine Verschiebung in der Valenz durchsetzte. In den 1920er-Jahren hatte er den Film noch als „Meisterwerk“ gepriesen, in dem „das Leiden der verschmachtenden Seele in dem existenzleeren Geschiebe“ zum Ausdruck kam. In späteren Jahren nahm er den eher pathologischen Charakter der „deutschen Seele“ wahr.

In einem ausführlichen editorischen Nachwort rekapituliert die Herausgeberin Sabine Biebl die Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Caligari-Buches in den USA und in Deutschland, wobei sie der gängigen Interpretation folgt, Kracauers Studie habe ihm vor allem Scherereien mit den „Hexenjägern“ im Zuge der antikommunistischen Hysterie nach dem Zweiten Weltkrieg eingebracht (wie Karsten Witte in seinem Nachwort zum Essayband „Das Ornament der Masse“ schrieb). Vernachlässigt wird hierbei jedoch, dass beispielsweise der Herausgeber der anarchopazifistischen Zeitschrift „Politics“, Dwight Macdonald, einer der heftigsten Kritiker Kracauers war. In einer Rezension des Caligari-Buches in der Zeitschrift „Partisan Review“ (die ironischerweise ein Kapitel im Vorabdruck veröffentlicht hatte) aus dem Herbst 1947 wies er harsch die These der faschistisch infizierten, kranken deutschen „Kollektivseele“ zurück und warf Kracauer vor, sich einer „totalitären“ Methode zu bedienen, um die Realität in einer vorgegebenen Richtung zu interpretieren und einem gesamten Volk eine faschistische Mentalität zu unterstellen.

Während er dem deutschen Emigranten ideologische Simplifizierung der Realität vorhielt, begriff er nicht dessen komplexe Argumentation: Die Studie Kracauers schrieb die Katastrophe keineswegs naiv und simpel einer autoritären Indoktrination durch die Filmindustrie zu, sondern stellte neben ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren auch psychologische Dispositionen der deutschen Bevölkerungsschichten, vor allem der kleinbürgerlichen Angestellten, in Rechnung, die Macdonald in seiner polemischen Kritik jedoch nicht wahrnehmen wollte.

Die Kritik formulierte Macdonald in einer Zeit, als linke Intellektuelle in den USA und in Europa in der Formation der „Europa-Amerika-Gruppen“ (zu deren Protagonisten neben Macdonald auch Mary McCarthy, Albert Camus und Nicola Chiaromonte gehörten) einen dritten Weg jenseits des Kapitalismus und des sowjetisch geprägten Kommunismus suchten. Für dieses „utopisch“ konzipierte Projekt (das Mary McCarthy später in ihrem Roman „The Oasis“ karikierte) war Kracauers Buch eher kontraproduktiv. Doch auch später legte Macdonald nie seine Aversion gegenüber Kracauer ab: Als er Pauline Kaels Kritikensammlung „I Lost It At the Movies“ (1965) rezensierte, echauffierte er sich noch immer über „Dr. Siegfried Kracauers akademisch-extremistische Theorien über ,die grundlegende Natur des Kinos‘“. Offenbar konservierten sich persönliche Animositäten über die persönlichen Veränderungen im Laufe der Jahrzehnte hinweg.

Dem Caligari-Buch wurde – wie schon in der Schriften-Edition – eine Untersuchung zur Propaganda des Nazikriegsfilms angefügt, die thematisch besser in den zweiten Teilband aufgenommen worden wäre, der sich dem Themenkomplex Massenmedien und Propaganda annimmt. Neben Untersuchungen zum deutschen Film und zur nationalsozialistischen Wochenschau, die Kracauer nach seiner geglückten Flucht aus Frankreich in die USA im Jahre 1941 unternahm, bildet vor allem der Text „Totalitäre Propaganda“ aus dem Jahre 1937, der im Auftrag des Instituts für Sozialforschung entstand, aber nie veröffentlicht wurde, das Herzstück dieses Bandes. In dieser Studie analysiert Kracauer die propagandistische Praxis der Nationalsozialisten und der Faschisten in Deutschland. Über die historische Bestandsaufnahme hinaus hat dieser Text aber auch aktuelle Relevanz, da er die Verwobenheit der Propaganda mit Gewalt und Terror herausarbeitet, die auf die psycho-physische Struktur der Einzelnen mit der Wucht des technischen Apparats einwirke: Das zum „Massenteilchen“ regredierende Individuum versinke im totalitären System der Masse, das willfährige Unterwerfung einfordere und zugleich Schutz in der Uniformität biete. Darüber hinaus etabliere der propagandistische Apparat der Herrschaft eine „Pseudo-Realität“, in der sich eine Kultur des Todes aufbaut: „Hinter dem Tumult der totalitären Propaganda taucht ein Totenkopf auf“, resümiert Kracauer.

Der Text stieß allerdings auf Kritik des Auftraggebers, des Instituts für Sozialforschung. Zwar gilt Kracauer als „fellow traveller“ der „Frankfurter Schule“, doch verband ihn mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ein schwieriges Verhältnis. In einem Gutachten zu Kracauers Studie, das im Anhang des Bandes abgedruckt ist, kritisiert Adorno „eine gewisse Unverbindlichkeit und Zufälligkeit der theoretischen Begründungszusammenhänge, die zuweilen das Amateurhafte streifen“, hebt aber auch hervor, dass Kracauer „in literarisch höchst brauchbaren Formulierungen bestimmte Erfahrungen und Beobachtungen“ ausdrücke, die „über die outsiderhafte Position des Autors hinaus Geltung“ besäßen. Jedoch lässt die vorurteilsbeladene Sicht auf die Homosexualität, die ausschließlich als „Ausfluss“ sadomasochistischer Triebe wahrgenommen wird und auch im Caligari-Buch nur als Spielart des Abnormen und Perversen auftaucht, eine aus heutiger Perspektive problematische Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität erkennen.

Dennoch ist die Studie ein wichtiger Beitrag zum Verständnis totalitärer Propaganda, und es ist eine außerordentliche editorische Leistung, dass dieser Text aus einer handschriftlichen Fassung Kracauers rekonstruiert wurde. In einem ausführlichen Nachwort rekapitulieren die Herausgeber Christian Fleck und Bernd Stiegler die Entstehung der Untersuchung und beleuchten das diffizile Verhältnis Kracauers zu den verschiedenen Mitgliedern des Instituts. Darüber hinaus enthält der Band – neben einigen kürzeren Texten zu deutschen Filmen und Medien der Massenbeeinflussung wie Werbung und Wochenschau – auch Untersuchungen zur Mentalität nichtkommunistischer Bevölkerungen in den Satellitenstaaten des sowjetischen Einflussbereichs des Kalten Krieges sowie Beiträge zur Praxis der Sozialforschung.

Von besonderem Interesse ist Kracauers Entwurf zu dem Filmprojekt „Below the Surface“ (1943-46), mit dem das Institut für Sozialforschung diskriminatorische Einstellungen zu Juden testen wollte, doch wurde dieses Projekt nie realisiert. Das Scheitern dieses Unternehmens beschreibt David Jenemann detailliert in seinem Buch „Adorno in America“ (2007). So stellen diese beiden Bände der Werkausgabe das weit gefächerte intellektuelle Spektrum Kracauers nach seiner Flucht aus Deutschland eindrucksvoll dar.

Titelbild

Siegfried Kracauer: Werke in neun Bänden. Band 2.1 Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films.
Herausgegeben von Sabine Biebl.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
574 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783518583425

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Titelbild

Siegfried Kracauer: Werke in neun Bänden. Band 2.2: Studien zu Massenmedien und Propaganda.
Herausgegeben von Christian Fleck und Bernd Stiegler.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
896 Seiten, 74,00 EUR.
ISBN-13: 9783518583500

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