Die Formeln wider den Tod

In Daniel Kehlmanns Roman „Mahlers Zeit“ versucht ein junger Physiker Gottes Rechenfehler zu korrigieren

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natur ist nicht, was sich dem Auge zeigt: Landschaften, blauer Himmel, Pflanzen und Tiere. Natur ist Inbegriff gesetzmäßiger Zusammenhänge, die sich von sehr wenigen basalen Grundgesetzen ableiten lassen. Nahezu alle Vorgänge, die durch diese Gesetze der Natur bestimmt werden, verlaufen zyklisch – mit einer Ausnahme: Dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Die Unordnung im Universum wird nicht weniger, sie bleibt allenfalls gleich. Um Ordnung herzustellen muss Energie aufgewendet werden – die Unordnung hingegen kommt von allein.

Im Falle des Universums bedeutet dieses Gesetz dessen Ausdehnung und Zerstreuung, bis die im System vorhandene Energie aufgebraucht ist. Was danach kommt, ist die Kälte und der Stillstand. Die Todesstille im Universum. Dieses gesetzmäßige Mehr an Unordnung, das der zweite Hauptsatz der Thermodynamik festschreibt, gibt der Zeit eine Richtung und bindet alle Dinge an die Zeit. Er bestimmt ihre Endlichkeit im steten Wechsel der Zustände. Es ist „der Tod, übersetzt in die Physik“. Dieser zweite Hauptsatz oder besser seine mögliche Verbesserung im Sinne von Umkehrung durch die Mittel und Methoden der Physik stehen im Zentrum von Kehlmanns zweitem Roman.

Was – zumindest für nicht physikbegeisterte Zeitgenossen – zunächst ein wenig trocken anmuten mag, wird zu einem todbringenden Wettlauf gegen die Zeit und gegen jene Ordnungsmächte des Kosmos, die verhindern, dass man dem Schöpfer allzu tief in die Karten schaut (dies ist zumindest ist die feste Überzeugung des Protagonisten).

David Mahler ist ein unbeholfenes Genie. Früh zerreißt der schreckliche Tod der kleinen Schwester die Familie und lässt David mit seinen Talenten und seinen Träumen, in denen die Schwester ein steter Gast ist, allein. Ohne Mühe und Eifer erschließt sich dem immer dicker werdenden Jungen die Welt als Zahlensystem. Mit beinahe autistischer, unheimlicher und einsam machender Präzision zerlegt Mahler seine Welt in Zahlen und mathematische Verhältnisse und macht sich zum Außenseiter par Excellence. Doch er zerlegt nicht nur – er setzt ebenso zusammen und macht bereits mit vierzehn Jahren erste Erfindungen, die seinen Weg nach dem ausgezeichneten Schulabschluss ebnen. Zu Beginn der Erzählung ist er im Mittelbau der Universität angekommen – und könnte weiter an seiner akademischen Karriere bauen. Selbst die Liebe hätte einen Platz in diesem Leben – wenn David Mahler bereit wäre, ihr einen solchen einzuräumen.

In diese Situation bricht jedoch eine Erkenntnis herein, die alles Bestehende aufhebt. In einer Schwebe zwischen Traum und sogenannter Realität erkennt David einen Fehler an dem Gesetz der Zeit und die Formeln, die eine Umkehr der Zeitrichtung möglich machen könnten. Von da an zerstört nicht nur der Versuch, diese unerhörte Entdeckung publik zu machen Stück für Stück das überschaubare soziale Gefüge Mahlers und seine Karriere. Es häufen sich auch seltsame, beängstigende und auch die Physis des Protagonisten betreffende Geschehnisse, die David Mahlers mathematisch-physikalische Theorie um einige weitere unerhörte Elemente bereichern: Gibt es Wächter des göttlichen Schöpfungsplans die jeden verfolgen, der sich zu weit vorwagt?

Was ohne Weiteres Stoff für triviale Spannungsprosa liefern könnte, wird unter den Händen Kehlmanns zu einem poetisch-suggestivem Spiel zwischen Traum und Wachbewusstsein und einem durchaus fesselnden und spannenden Taumel in die Katastrophe. Das Thema apriorischer Naturwissenschaft, deren Grenzbereiche das Übernatürliche berühren, erinnert an Darren Aronofskys filmisches Low-Budget Experiment „Pi“.

Das Ende des Romans selbst ist scheinbar zyklisch und stellt den Leser und Interpreten aufs Neue vor die Frage nach dem Realitätsstatus des Erzählten. In Mahlers Zeit zeigt sich Daniel Kehlmanns Erzähltalent lange vor seinem Durchbruch mit der Vermessung der Welt in beeindruckender Weise.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Mahlers Zeit. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
160 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518410784
ISBN-13: 9783518410783

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