Einladung zu Erkundungstouren im „Bergwerk der Sprache“

Von Gabriele Leupold und Eveline Passet herausgegebener Sammelband eröffnet einen facettenreichen Zugang zur deutschen Sprachgeschichte

Von Katharina MünstermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Münstermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sprach(geschichts)führer, die auch Laien auf leicht verständliche Weise linguistisches Wissen vermitteln, erfreuen sich seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit – man denke für ein sehr positives Beispiel etwa an die Bücher des israelischen Linguisten Guy Deutscher. Nicht zuletzt beigetragen zu diesem Erfolg eines im klassischen Schulunterricht (vermeintlich) eher unbeliebten Gegenstands auf dem Buchmarkt haben sicherlich auch selbst ernannte Sprachpfleger wie Bastian Sick, deren normative Grammatikvorstellung von der Fachwissenschaft jedoch mit berechtigter Skepsis beäugt wird.

Erfrischend und auch überraschend anders im Vergleich mit den Vorgenannten knüpfen nun Gabriele Leupold und Eveline Passet an dieses neue breite Interesse an Sprache und Sprachgeschichte an: Hinter dem gefälligen Titel des von den beiden Literaturübersetzerinnen herausgegebenen Bandes verbirgt sich eine bunte Sammlung von Beiträgen zur Sprachgeschichte des Deutschen, deren Bandbreite sich von syntaktischen Phänomenen, deren Entwicklung seit althochdeutscher Zeit verfolgt wird, über Spezifika der Lexik des Deutschen während der nationalsozialistischen Herrschaft bis hin zu grammatikalischen Besonderheiten der Sprache Jugendlicher mit Migrationshintergrund erstreckt.

Wo bei diesen zunächst disparat und unverbunden wirkendenden Themenfeldern das gemeinsame Interesse liegt, stellt der aus einer von den Herausgeberinnen veranstalteten Vortragsreihe im Literarischen Colloquium Berlin, dem Sitz des deutschen Übersetzerfonds, erwachsene Band im Vorwort heraus. So geht es einerseits beim Blick in die Tiefen der Sprachgeschichte immer auch darum, eine Perspektive für Literaturübersetzer zu schaffen, deren komplexe Aufgabe es nicht zuletzt ist, Texte und Textteile in unterschiedlichsten Sprachstufen, Dialekten und Stilen in einer anderen Sprache als dem Ausgangstext gleichsam nachzubilden. Zum anderen benennen die Herausgeberinnen als „eine Art Haupt- und Grundthema […] die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ und leiten daraus weitere „wiederkehrende […] Oppositionen“ wie zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis zwischen Norm und Normabweichung, Standardsprache und Varietät, unterschiedlichen Rezeptionsformen et cetera ab. Die Beiträge eröffnen dem Leser somit einen Blick auf die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Sprach- und zum Teil auch der Literaturgeschichte und sensibilisieren dafür, dass solche Phänomene mit einem allzu starren normativen Grammatikverständnis nicht nur nicht erfassbar sind, sondern letztlich auch den interessanteren Teil einer bewussten Auseinandersetzung mit Sprache und deren Geschichtlichkeit ausmachen.

Der Band nimmt trotz der Vielfalt der einzelnen Beiträge keine explizite Bündelung der 16 ‚Episoden‘ zu größeren Themenkomplexen vor, die Anordnung der Texte lässt jedoch durchaus auf ein bewusst verfolgtes Ordnungsprinzip schließen. Die ersten vier Beiträge beschäftigen sich mit syntaktischen Aspekten und der Markierung syntaktischer Relationen im Text – Britt-Marie Schuster untersucht topologische Normen und Abweichungen in ihrer Geschichtlichkeit und ihren Einsatzmöglichkeiten als Stilmittel, Paul Rössler beschäftigt sich mit der Geschichte der Zeichensetzung auch als Mittel der Kreativität – sowie mit der Abgrenzung direkter Rede (Anne Betten) und erlebter Rede vom Erzähltext beziehungsweise der Erzählerstimme und der Übersetzung dieses Phänomens in Erzähltexten (Sibylle Kurt). Bereits hier wird eine Besonderheit und auch große Stärke des Bandes deutlich, die alle Beiträge auszeichnet: Die hier wie selbstverständlich wirkende Verquickung von (historischer) Linguistik, Literatur- und Translationswissenschaft ist dies in einer jahrzehntelang gepflegten Tradition der Abgrenzung insbesondere von Sprach- und Literaturwissenschaft mitnichten, erweist sich jedoch gerade bei für sich genommen eher weniger anschaulichen Themen wie der Ausklammerung (Beitrag Schuster) als äußerst erhellend.

Deutlich in den Bereich der (konzeptuellen) Mündlichkeit weisen die Beiträge von Jörg Kilian und Elke Hentschel, denn beiden geht es um Partikeln, die insbesondere dort ihren klassischen Verwendungsbereich finden und nicht zuletzt deshalb erst in den letzten Jahren für die Forschung interessanter geworden sind. Während es Kilian um die dialogpragmatische Funktion von „Dialogstrukturpartikeln“ geht, die ihre je spezifische ‚Bedeutung‘ ausschließlich aus dem Gesprächskontext generieren, zeigt Hentschel sehr anschaulich, wie die in der älteren Forschung als ‚überflüssig‘, da ohne Bedeutungsverlust weglassbar apostrophierten Abtönungspartikeln eine wichtige Funktion auf der Beziehungsebene der Sprachnutzer wahrnehmen. So scheint die Verwendung von bestimmten Partikeln eine starke Auswirkung darauf zu haben, ob Menschen eine Äußerung als zugewandt und freundlich oder mit einer negativen Grundstimmung behaftet empfinden – eine Erkenntnis, die nicht nur für Linguisten und Literaturschaffende oder -übersetzer von Bedeutung sein kann.

Das ohnehin bemerkenswert bereite Repertoire an behandelten Textgattungen erweitert sich mit den Beiträgen von Klaas-Hinrich Ehlers und Anja Voeste zusätzlich, denn beide nehmen in historischer Perspektive schriftliche Kommunikation in den Blick, für welche in erster Linie nicht literarische Stilisierung, sondern (vermeintliche) Selbstäußerung zu erwarten wäre. Der Beitrag Voestes destruiert diese Erwartung jedoch, denn ihre Textbeispiele aus dem 16. bis 19. Jahrhunderts illustrieren eindrucksvoll, wie auch vergleichsweise ungeübte Schreiber in Briefen und autobiografischen Texten durch die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel versuchen, ihr Sozialprestige zu erhöhen oder verlorenes gesellschaftliches Ansehen wiederherzustellen. Als besonders überraschend – und meines Erachtens für die Beurteilung des schriftliterarischen Status älterer Texte in Mediävistik und Frühneuzeitforschung in Zukunft zu berücksichtigen – erweist sich hierbei, dass einige sprachliche Eigenheiten, die in moderner Literatur eingesetzt werden, um Mündlichkeit zu fingieren, in älteren Texten den Versuch markieren können, sich bildungssprachlich-komplex und rezeptionserschwerend auszudrücken.

Die Texte, die Ehlers interessieren, sind dagegen denkbar kompakt: Ehlers untersucht anhand eines Korpus aus Briefen und Briefstellern insbesondere aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die Veränderung der Konventionen in der Gestaltung von Anrede, Grußformel und Briefraum und zeichnet dabei eine erstaunlich eindeutige Beziehung dieser zunächst unscheinbaren Elemente mit den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts nach.

Insbesondere Ehlers’ Beobachtungen zur Veränderungen der Konventionen brieflicher Kommunikation zwischen 1933 und 1945 bilden eine Brücke zu Renate Birkenhauers von der Erarbeitung eines als Hilfsmittel für Literaturübersetzer initiierten Wörterbuchs ausgehenden Beitrag, der auf eindringliche und beklemmende Weise deutlich macht, wie Terrorherrschaft und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten in kürzester Zeit ihre Spuren in der deutschen Verwaltungs- und Umgangssprache hinterließen. Auch dass sich aufgrund der Tatsache, dass das Verstehen deutscher Kommandos überlebensnotwendig war, unter den Opfern in den Vernichtungslagern eine auf dem Deutschen und den unzähligen Herkunftssprachen basierender besondere Sprache entwickelte, berücksichtigt Birkenhauer: Anhand mehrerer Listen mit Wörtern aus dieser ‚Lagersprache‘ bietet sie einen Einblick in einen Bereich, der von sprachinteressierten Laien kaum sogleich mit ‚Sprachgeschichte‘ in Verbindung gebracht würde. Gerade diese auf den ersten Blick eher nicht mit Sprachwandel assoziierten Themen sind es, die dem Leser die Chancen auf Horizonterweiterung und Stärkung des Sprachbewusstseins noch einmal auf besondere Weise bieten.

Letzteres gilt sicherlich in gleichem Maße auch für die eine größere Gruppe an Beiträgen, die sich auf sehr unterschiedliche Weise dem Thema der (inneren) Mehrsprachigkeit widmen. So zeigen die Beiträge von András F. Balogh, Katharina Mayr, Kerstin Paul und Kathleen Schumann, Manfred Michael Glauninger sowie Hermann Scheuringer in ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Mehrsprachigkeit bei (unter anderem) deutsch schreibenden Autoren in Ostmittel- und Südosteuropa (Balogh), der literarischen Umsetzung von Gastarbeiter- und Kiezdeutsch und deren linguistischer und soziokultureller Bewertung (Mayr, Paul, Schumann), zwei wenig erforschten Minderheitensprachen der K.u.K. Monarchie (Glauninger) sowie der historischen und gegenwärtigen Bedeutung des Deutschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa (Scheuringer), dass das neue breite Interesse an Sprache ein beschränktes ist, solange es beim (Standard)Deutschen stehen bleibt.

Mit zwei ganz besonderen ‚Bonbons‘ warten abschließend Horst Simon und Dieter Cherubim auf: Beide beschäftigen sich in ihren Beiträgen mit Fragen der Stilimitation – Simons Beitrag ‚Wie man n Text Platt macht‘ aus Sicht der vergleichenden Dialektologie und Cherubim in diachroner Perspektive, indem es ihm darum geht Texte ‚alt aussehen‘ zu lassen. Beiden gelingt es, diese Art des Umgangs mit Sprache jenseits von Philologenscherzen, Kuriositätenveranstaltungen oder spielerischer Mittelalterromantik zu würdigen, indem sie deren Relevanz für stiltreue literarische Übersetzungen herausstellen und beispielreich sprachliche Mittel zeigen, die einen allgemeinen Eindruck von dialektalem Sprechen oder Historizität in einem Text erzeugen. Dass dies kein totes, sondern durchaus gefragtes Wissen ist, illustriert indes der Blick in die Danksagung eines aktuellen Beststellers: Die junge österreichische Autorin Vea Kaiser hat für die Gestaltung des von einem großen Teil der Figuren in ihrem hochgelobten Debütroman „Blasmusikpop“ (Kiepenheuer & Witsch 2012) gesprochenen Dialekts auf die Hilfe Glauningers zurückgegriffen. Das Ergebnis zeigt: Obwohl die verwendete Dialektsprache eine künstlich hergestellte ist, die nirgends in dieser Form gesprochen wird, basiert die Wirkung des Romans zu einem Gutteil auf der gelungenen Kontrastierung der vom Leser als authentisch wahrgenommenen Dialekt- mit der Standardsprache.

Jeder einzelne der 16 Beiträge ist für Laien und untere Studiensemester verständlich, bewegt sich dabei aber immer am Puls der aktuellen Forschung – alle Autoren sind ausgewiesene Experten im Fachbereich germanistische Linguistik. Dem breit aufgestellten Fachwissenschaftler mögen die meisten Beiträge in ihren einführenden Erläuterungen anfänglich wenig Neues bieten, ein großer Vorzug des Bandes sind jedoch insbesondere die zwar knappen, aber präzisen Einführungen in den jeweiligen Gegenstand, die Skizzen zur Forschungsgeschichte sowie die Nennung grundlegender und aktueller Literatur. Die „Episoden“ dieser Geschichte(n) des Deutschen sind nicht zuletzt deshalb zur ersten Annäherung an ein Thema und als Appetizer für Studierende bestens geeignet. Denn der Band macht vor allem eines: Lust auf Sprache, Lust auf Sprachwissenschaft. Die beeindruckende Vielfalt der thematisierten Sprachwandelphänomene, Gattungen, Sprachen und Varietäten schafft auf unterhaltsame Weise ein Bewusstsein dafür, dass Sprache nicht eindimensional über die Dichotomie von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ ‚erklärbar‘ ist. Insbesondere der Beitrag von Hans-Joachim Bopst, der die Beweglichkeit grammatischer Konventionen am Beispiel ‚falscher‘ Präpositionen expliziert, ist bereits für sich genommen ein hervorragendes Plädoyer dafür, dass die Auseinandersetzung mit Sprache so, wie sie in diesem Band geschieht, auch für den Schulunterricht in der Oberstufe bei entsprechender Auswahl und didaktischer Begleitung sicherlich um einiges besser geeignet ist als die ‚Sprachführer‘ von Sick und Co.

Die sprachliche und inhaltliche Eingängigkeit der Beiträge, die ihren Teil zur Eignung auch für Schul- und Hochschulunterricht beisteuert, schmälert die fachliche Qualität der Beiträge dabei in keiner Weise, im Gegenteil: Der schwierige Spagat zwischen Wissenschaftlichkeit und Allgemeinverständlichkeit gelingt diesem hochinteressanten und abwechslungsreichen Kompendium an Ausschnitten aus der deutschen Sprachgeschichte anscheinend mit großer Leichtigkeit. Der linguistisch vorgebildete Leser wird notwendigerweise zu Beginn der meisten Beiträge für ihn selbstverständlichem Grundlagenwissen begegnen, aber auch der ausgewiesene Fachwissenschaftler wird kaum auf allen Gebieten, die dieser Band berührt, gleichermaßen bewandert sein und kann sicherlich in den ihm entlegeneren Flözen des faszinierenden Bergwerks der Sprache noch so manchen Gewinn einfahren – und das ganz ohne Hammer und Meißel, denn hier erntet es sich gleichsam von selbst.

Titelbild

Gabriele Leupold / Eveline Passet (Hg.): Im Bergwerk der Sprache. Eine Geschichte des Deutschen in Episoden.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
360 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311787

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch