Grenzüberschreitende Schreibwerkstatt

Thomas Stangl eröffnet dem Leser in seinem Essay-Band „Reisen und Gespenster“ neue Welten

Von Christopher HeilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Heil

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neueste Veröffentlichung von Thomas Stangl trägt den Titel „Reisen und Gespenster“ – eine Sammlung von Essays, Reportagen, Bildbeschreibungen, Reiseberichten und Preisreden, die aus drei bislang unveröffentlichten und 16 bereits veröffentlichten Texten besteht. Ist es nun schade, dass es „lediglich“ eine Sammlung von zum größten Teil veröffentlichten Texten anstelle eines Romans ist, die bei Droschl erschienen ist? Denn diesem Band sind doch die drei äußerst beachtlichen Romane „Der einzige Ort“ (2004), der den aspekte-Literaturpreis für das beste Prosadebüt erhielt, „Ihre Musik“ (2006) und „Was kommt“ (2009), nominiert für den Deutschen Buchpreis 2009, vorangegangen.

Also: Ist „Reisen und Gespenster“ ein Lückenfüller? Das kann an dieser Stelle vorweg mit aller Sicherheit verneint werden, da diese Texte, die zwischen 1994 und 2011 entstanden sind, es wirklich in sich haben. Sie geben unter anderem poetologische Annäherungen an das Schreiben und die Bedeutung des Schreibens in Thomas Stangls Leben: „Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlich zu existieren. Ich wollte kein Gesicht haben. […] Ich wollte mich in eine hermetische Welt aus Wörtern verschließen: makellos angeordneten Wörtern, die kaum etwas zu besagen hatten, das bloße Dasein, Buchstabe für Buchstabe, Zeile für Zeile sollte genügen“, heißt es im ersten Text „Abwesenheiten“. Was zunächst für den Einen oder Anderen als „Literatur-Literatur“ oder eine Schreibwerkstatt in einer Meta-Sphäre klingen mag, zeigt in diesem poetologischen Essay jedoch in bemerkenswerter Weise Stangls hohes Maß an Sprachsensibilität, erklärt und veranschaulicht diese zugleich. Beim Lesen seiner Romane und von „Reisen und Gespenster“ erkennt man, wie viel Arbeit der Autor in jedes der niedergeschriebenen Worte legt, wie er nahezu in der Sprache lebt – „Ich habe erst wirklich zu schreiben begonnen, sobald ich lernte, mich zu verlassen“ – und auf der Suche nach der perfekten Konstruktion ist. Das hat allerdings zur Folge, dass man die Texte nicht mal eben schnell in Bus oder Bahn ganz nebenbei lesen kann, denn beim Lesen schlägt einem regelrecht eine Lawine der Sprachgewalt in einer Dichte entgegen, die beeindruckt, aber zugleich immens fordert.

Ganz gleich, ob man mit Stangl in „Reisen im Gebirge der Zeichen“ nach Mexiko reist und ihm auf den Spuren von Antonin Artaud und dessen Mexikoaufenthalt circa 60 Jahre zuvor folgt, oder ob er von den Mumien von Guanajuato und dem Besuch der Körperwelten-Ausstellung in „Tote und ihre Bilder“ erzählt – man findet eine Präzision in seinen Worten, die eine besondere Beobachtungsgabe evident werden lässt. In der Rede „Where is my mind“ anlässlich des Erich-Fried-Preises 2011 kommt Stangl über Wenedikt Jerofejews „delierendes Buch Die Reise nach Petuschki“, das Lied „Reconstruction Site“ von The Weakerthans, die Studentenproteste in Wien im Herbst 1987 und einer Lesung Erich Frieds im Audimax zu der Feststellung, „in einer gespenstischen Welt ohne Gespenster gelandet“ zu sein. Unprätentiös und ohne die eigene Belesenheit zur Schau zu stellen, fließen immer wieder Zitate von Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Walter Benjamin, Karl Marx und anderen Geistes- und Gesellschaftstheoretikern sowie Schriftstellern in die Texte ein, ohne dass man es als bloßes namedropping entlarven würde.

Neben der Literatur spielt Musik – seien es The Clash, Tindersticks, ein Iggy Pop Konzert, dessen „The Passenger“ die Stimmung eines ganzen Abends einfängt und widerspiegelt – eine wichtige Rolle, die eine Reihe von Texten durchziehen. Mit einem Schmunzeln liest man in „Schnitte“ von der Erinnerung an einen „Nine Inch Nails“-Konzertbesuch, „eine Musik, die brutal und hart sein wollte, aber an mir vorbeizog wie ein Sommerlüftchen. Später las ich, dass der alte Ernst Jandl im selben Konzert gewesen war und seinen vierzigjährigen Begleitern, die sich die Ohren zuhielten und nicht verstanden, was er meinte, gesagt hätte, „das sei einfach zu wenig, zu brav.“

Reflexionen über Mitsuo Yanagimachis Film „Abschied von der geliebten Erde“ in „Ein zweites Leben“, die finanziellen Schwierigkeiten während des Schreibens von „Der einzige Ort“ in „Doppelte Buchführung“ oder das Einflechten der Erinnerung an den Tod des eigenen Vaters in „Magie und Leere“ bringen dem Leser den Autor durch seine Klarheit der Sprache und Empathie auch persönlich nahe, ohne jemals ins Pathetische abzudriften. Und immer wieder wird neben den Reisen und den Gespenstern, den Sterbenden und den Toten sowie dem Traum und der Erinnerung das Schreiben thematisiert: „Ich erinnere mich, erwarte es, aber es gibt keine Gleichzeitigkeit, alles steht für sich; zwischen den Bildern bleibt eine Kluft. Und mit welchem Glück versuchst du jetzt im Schreiben die Kluft zu schließen, indem du sie beschwörst. Du kannst nicht aufhören, die Wörter und Bilder, den Schein des Schreckens zu lieben. Ihnen Atem zu geben, den Rhythmus eines Atems.“

Bemerkenswert sind die Texte „Das Haus mit den grünen Fenstern“ und „Momente, nah am Traum“, die nicht bloße Relief- und Bildbeschreibungen darstellen. Stangl beschreibt so klar die Mise en abyme – „im gemalten Maler sieht man den Maler, der malt, sich von der Leinwand entfernt, weiterlebt, stirbt, während sein mit Farben selbstgeschaffener Blick den Betrachter gefangenhält“ – und wie er metaleptisch die Welt des Betrachters verlassen und in die des Gemäldes eintauchen könnte: „Ich könnte hinübersteigen, durch die Spiegelungen in den Augen, den fremden Blick hindurch, ein Sprung. […] Jeder Blick reicht an eine Grenze.“

Die Sprache allerdings kennt keine Grenzen, die nicht überwunden werden könnten: so könne man „auch durch den Rahmen treten und ins Innere des Gemäldes einsteigen; wenn man irgendwo sein kann, dann kann man überall sein.“ Schade nur, dass die gescannten Bilder Hieronymus Boschs, Albrecht Dürers oder Cornelis van Poelenburghs nicht zur Geltung kommen und man beispielsweise nicht die Feinheiten des Bildes „Der Heilige Hieronymus im Gebet“ (Anonym) sehen kann, die darin so klar beschrieben werden. Aber da Stangl nicht nur das beschreibt, was auf den Bildern zu sehen ist, sondern auch schildert, was hinter den Grenzen des Rahmens, der Fenster oder Türen der Bilder stecken könnte, kann man über diesen optischen Mangel hinwegsehen. Es ist eine Reise mittels der Sprache in die Tiefen der Bilder, die mit Präzision und Detailreichtum Nuancen aufzeigt, die sich den Blicken vieler entziehen.

Was findet man also in „Reisen und Gespenster“? Stangl schafft es in dieser Textsammlung einerseits, essayistisch das Besondere der Sprache und seines Schreibens aufzuzeigen; andererseits findet man die konkrete Umsetzung seiner schriftstellerischen Maxime in seinen Erzählungen, Erinnerungen, Bildbeschreibungen, Reportagen und Reden. Literatur wird bei Stangl körperlich oder der Autor wird quasi entmaterialisiert und begibt sich in die Welt der Zeichen, um zu konstatieren: „Immer noch glaube ich heimlich, dass alles, was ich sage (alles, was irgendjemand sagt?) gelogen ist; immer noch glaube ich heimlich, dass alles, was ich schreibe (alles, was irgendjemand geschrieben hat?) wahr ist.“ So kann man nur hoffen, dass uns Thomas Stangl weiterhin seine (die?) Wahrheit – gerne auch wieder in Form eines Romans – aufschreibt.

Titelbild

Thomas Stangl: Reisen und Gespenster. Essays, Reden und Erzählungen.
Literaturverlag Droschl, Graz 2012.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207917

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