Gegen eine reduktionistische Ideengeschichte

Ernst Cassirer verfolgt einen roten Faden durch Rousseaus sozialphilosophisches Werk

Von Tobias WeilandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Weilandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum 300. Geburtstag von Jean-Jacques Rousseau (1712-1788), gab der promovierte Philosoph Guido Kreis als anerkannter Cassirer-Experte zwei Schriften des Kulturphilosophen Ernst Cassirer (1874-1945) über Rousseau heraus: Zum einen den 1932 erschienenen Aufsatz „Das Problem Jean-Jacques Rousseau“, zum anderen die 1939 publizierte Studie „Kant und Rousseau“. Neu erschienen sind beide Schriften im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Über Rousseau“.

In der „Problemschrift“ versucht Cassirer die Stringenz des Rousseau’schen Werkes bis zum 1792 erschienenen „Gesellschaftsvertrag“ aufzuzeigen. Im Kant-Rousseau-Vergleich bemüht sich Cassirer hingegen, die philosophischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Denkern aufzuzeigen, denn wiederholt preist Kant das Werk eines seiner geistigen Paten als wichtige Inspirationsquelle. Cassirer gelingt der tatsächliche und nicht nur anekdotische Nachweis des großen Einflusses der Rousseau’schen Überlegungen zu sozialphilosophischen Fragestellungen und insbesondere zu Problemen der Ethik auf das Denken Kants.

Hinsichtlich des ersten verschriftlichten Vortrages „Das Problem Jean-Jacques Rousseau“ drängt sich die Frage auf, warum ein solches Vorhaben überhaupt verfolgt werden sollte. Liegt denn ein inhärenter Wert im Nachweis einer konsistenten und kohärenten Gedankenführung durch ein ganzes Oeuvre? Sicherlich nicht! Gerade neue Denkweisen innerhalb einer wissenschaftlichen Karriere zeugen von einem hohen Innovationsgeist, so wird nicht umsonst das Werk Ludwig Wittgensteins in einen ersten und einen zweiten Teil unterteilt und Martin Heidegger spricht ab den 1930er-Jahren sogar von einer ,Kehre‘ innerhalb seines Opus. Im Falle Rousseaus wird das scheinbare Umdenken jedoch pathologisiert. Der Bruch zwischen der 1750 erschienenen „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ (kurz: „Abhandlung über die Ungleichheit“) und dem „Gesellschaftsvertrag“ galt lange als zum einen durch Äquivokationen und logisch inkonsistente Beweisführungen verursacht, zum anderen durch Rousseaus angebliche paranoide Schizophrenie motiviert. Sicherlich kann Rousseau eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit nachgesagt werden, doch sollten die psychologische Verfassung und die Lebensumstände nicht das Werk dahingehend verdecken, dass Ideengeschichte zur Krankengeschichte verkommt.

Je nachdem, welches Werk als die angeblich zentrale Schrift herangezogen wurde, führte dies zur Vereinnahmung Rousseaus durch unterschiedliche politische Lager. Wurde er von den einen als Vordenker eines Staatssozialismus verstanden, so wird er von anderen wiederum als grand maître des modernen Individualismus angesehen. Der Nachweis, dass beide Rousseau damit Unrecht tun, ist die Herkulesaufgabe, die sich Cassirer in seinem ersten Aufsatz über Rousseau im vorliegenden Band stellt. Zwar ist Cassirer nicht der erste, der sich einem solchen Unterfangen aussetzt – er knüpft an frühere Werke von zum Beispiel Lanson und Wright an – jedoch besticht der Versuch Cassirers durch eine besondere Detailfülle und Tiefe.

Statt der Frage nachzugehen, ob nun die „Abhandlung über die Ungleichheit“ oder der „Gesellschaftsvertrag“ das Zentrum der Rousseau’schen Philosophie darstellt, verfährt Cassirer problemorientiert. So liefen die Gedankenfäden Rousseaus bis 1792 in der Frage nach den Fundamentalbedingungen einer gerechten Gemeinschaft zusammen: „Wie können wir eine echte und wahrhafte menschliche Gemeinschaft aufbauen, ohne damit Übeln und der Verderbnis der konventionellen Gesellschaft zu verfallen?“.

Es geht Rousseau also um die Befreiung des Menschen aus der herkömmlichen Gesellschaft, die „ihn mit unzähligen Übeln belastet“. Der scheinbare Bruch im Werke Rousseaus, der zwischen der „Abhandlung über die Ungleichheit“, in dessen Verlauf er Kritik an der Zivilisation seiner Zeit übte und für die unter anderem der heute wieder in Mode gekommene Begriff der ,Entfremdung‘ zentral ist, und dem darauffolgenden „Gesellschaftsvertrag“, in dem er der eben noch verteufelten Gesellschaft scheinbar ein Gesetzbuch vorlegt, ist nach Cassirer unbegründet.

Es stünden sich letztlich zwei augenscheinlich unvereinbare Begriffe gegenüber: Freiheit und Gesetz. Tatsächlich werde diese Unvereinbarkeit durch Rousseau aufgelöst, indem er den Begriff der Autonomie, im Sinne von Selbstbestimmung der Gesetze durch die Vernunft ins Spiel bringt. Cassirer zitiert hierfür aus Rousseaus Enzyklopädie-Artikel „Discours sur l’Economie politique“ (deutsch: „Politische Ökonomie“): „Das Gesetz allein ist es, dem der Mensch die Gerechtigkeit und die Freiheit verdankt; dieses Organ des Willens aller ist es, das die natürliche Gleichheit unter den Menschen in der Ordnung des Rechts wiederherstellt; diese göttliche Stimme stellt für jeden Bürger die Normen der allgemeinen Vernunft fest und lehrt ihn, gemäß den Maximen seines eigenen Urteils zu urteilen und niemals in Widerstreit mit sich selbst zu geraten.“

Das scheinbare Paradoxon, das in der Koexistenz von Gesetz und Freiheit liegt, kann laut Cassirer aufgelöst werden, indem ersteres aus dem (bürgerlichen) Allgemeinwillen (volonté génerale) resultiert. Die von Rousseau gesuchte Gesellschaft ist die des Gesellschaftsvertrages. Er verurteilt die bestehende Gesellschaft, schreibt aber ein Gesetzbuch für eine neue, mit mündigen und selbstbestimmten Bürgern.

Ein weiterer wesentlicher Begriff bei der Beantwortung auf die obige Hauptfrage ist der des Egalitarismus oder der Gleichheit in ihren zwei Schattierungen: rechtlich und moralisch. Die Herstellung und Sicherung der rechtlichen Freiheit sei Aufgabe des Staates, die einer der zentralen Momente der Rousseau’schen Staatslehre darstellt, die eng verbunden mit seinem Erziehungsideal ist, das darin besteht, Menschen zu selbstbestimmten Bürgern zu erziehen, die frei von externen, insbesondere religiös motivierten Zwängen sind: „[I]hr [gemeint ist die Rousseau’sche Staatslehre, T.W.] wesentlicher Zweck geht darauf, den einzelnen zwar unter ein schlechthin allgemeinverbindliches Gesetz zu stellen, aber dieses Gesetz selbst so zu formen, dass jeder Schein der Laune und der Willkür aus ihm verschwindet.“ Jenes „allgemeine Gesetz“, sei einzig bindend und sichere Gerechtigkeit, da es eben nicht willkürlich ist. Der Staat übe zwar mit der Sicherung der rechtlichen Freiheit eine Form der negativen Freiheit aus, aber nur, um dadurch die moralische Freiheit der Bürger zu ermöglichen.

Cassirer entdeckt zum einen im volonté générale, und zum anderen in der Aufgabe der Erziehung des Menschen zu Rechtssubjekten, die wichtigsten innovativen Momente in der Lehre Rousseaus: „Diese ethische Aufgabe, die Rousseau der Politik zuweist, und dieser ethische Imperativ, unter den er sie stellt, ist seine eigentlich revolutionäre Tat.“.

Mit dieser Aussage befindet man sich bereits im Zentrum des zweiten Aufsatzes: „Kant und Rousseau“. Einem sach- und problemorientierten Vergleich zwischen Rousseau und Kant, stellt Cassirer die Frage voran, wie vor dem Hintergrund zweier gänzlich unterschiedlicher Psychogramme, eine philosophische Verbindung habe entstehen können, immerhin outete sich Kant als Rousseauverehrer, dessen Lektüre ihm nachweislich eine ergiebige Inspirationsquelle war. Galt Rousseau als ruheloser und in Extremen lebender, stets nach Einsamkeit strebender Intellektueller, so gilt der betagte Kant als regelvernarrter Analytiker, von deren Auswüchsen es einige amüsante Anekdoten zu berichten gibt.

Nach Cassirer war eine kantische Ideengebung durch Rousseau deshalb möglich, weil Kant Rousseaus Schriften vorurteilsfrei und unbefangen gelesen hatte und seine Lektüre nicht durch Kenntnisse über Rousseaus Gemüt und dessen absonderliches Verhalten verfälscht wurde. Kant erkannte: Rousseau „stand von Anfang an zur Gesellschaft in einem paradoxen Verhältnis; er musste sie fliehen, um ihr dienen zu können.“

Rousseaus Zeitgenossen sahen in seinem einsiedlerischen Leben aber eben nur jene Gesellschaftsfeindlichkeit und Misanthropie bis hin zur paranoiden Schizophrenie, die Cassirer zahlreichen Rousseauforschern seiner Vor- und Mitwelt vorwirft. Cassirer notiert: „Als Individuen gehörten sie nicht nur verschiedenen Hemisphären des ,globus intellectualis‘ an, sondern sie bilden gewissermaßen dessen äußerste Gegenpole. Dies gilt für die Denkform wie es für die Lebensform gilt.“ Dennoch eint beide Denker die Suche nach einem universalen Rechtsprinzip: „[S]ie begegneten sich in bestimmten Forderungen, die sie an die Welt und an den Menschen stellten.“ Die Pointe lautet: Rousseau stand Pate für Kants kategorische Imperative und insbesondere für die Formulierung aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. Beide Philosophen suchten nach einer universalen, reinen Rechtsidee und fanden sie in der volonté générale beziehungsweise im kategorischen Imperativ. Erst die Rousseau-Lektüre vermochte laut Cassirer Kant die Entwicklung einer nicht nur begrifflich elaborierteren Konzeption von Recht und Gesetz. Die Quintessenz lässt sich wohl am besten mit den Worten des Cassirer Lehrers Hermann Cohen auf den Punkt bringen, der in der „Ethik des reinen Willens“ schreibt: „Was er [Rousseau, T.W.] gemeint hat, das hat Kant gelehrt.“

Ernst Cassirer gelingt es in den beiden Aufsätzen die Einheit des Rousseau’schen Werkes und dessen Nähe zur kantischen Philosophie aufzuzeigen. Im zweiten Aufsatz stellt sich, wie fast immer bei ideengeschichtlichen Vergleichen dieser Art, die Frage nach deren Legitimität. Cassirers Ausführungen beruhen teilweise auf Interpretationen der Interpretationen des Rousseau’schen Werkes seitens Kant. Die Gefahr der wilden Spekulation ist hierbei enorm, insbesondere, wenn es sich wie im Falle Rousseaus um Texte handelt, die von logischen Defiziten und begrifflichen Äquivokationen nur so strotzen.

An den hin und wieder verschnörkelten Schreibstil eines Ernst Cassirers muss man sich gewöhnen. Stilistisch sind seine Werke, wie auch die beiden Rousseau-Aufsätze innerhalb der Philosophiegeschichte literarisch erstklassig. Leider verdeckt die Schönheit des Satzes oftmals dessen Wahrheit, weshalb es sich hin und wieder als schwierig erweist, dem Cassirer’schen Pfad durchs Oeuvre Rousseaus zu folgen. Hilfreich ist da die kurze Zusammenfassung beider Studien durch den Herausgeber im Nachwort. In dessen Rahmen verhandelt Guido Kreis auch einige Parallelen zwischen Rousseau und Cassirers „Die Philosophie der symbolischen Formen“.

Analog zur Rousseau’schen Eingangsfrage nach einer gerechten Gesellschaft stellt sich auch für Cassirer die Frage nach der Gestaltung und der Begründung universaler Handlungsnormen. Statt aber solche Ideen, wie Rousseau, aus der Vernunft abzuleiten, sieht Cassirer deren Ursprung in einer gegenseitigen, intersubjektiven Anerkennung. So sei zum Beispiel das Einhalten der bestehenden grammatischen Regeln bei der Bildung und Verwendung von Ausdrücken nötig, um Wirklichkeitserschließung qua Sprache als symbolische Form zu ermöglichen. Rousseaus Bestreben ist demnach nicht nur auch in gewissem Sinne Cassirers Anliegen, sondern ist immer noch von systematischer Relevanz.

Dank des Suhrkamp-Bandes „Über Rousseau“ zeigt sich auch die Verbindung der beiden Aufsätze von Cassirer. Es zieht sich demnach nicht nur ein roter Faden durch das Rousseau’sche Werk, sondern auch durch die beiden Studien Ernst Cassirers über den Schweizer Philosophen.

Titelbild

Ernst Cassirer: Über Rousseau.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
160 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518296257

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