Im Limbus

Raul Zeliks Roman „Der Eindringling“ stellt die Gewaltfrage

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist eine Karriere vom unbezahlten Praktikum zur Festanstellung mit zwei Trendsporturlauben im Jahr wirklich genug? Mit dieser Sinnfrage setzt sich der 25-jährige Daniel auseinander, der in Raul Zeliks „Der Eindringling“ im Jahr 2010 zum Studium nach Berlin gekommen ist. Der Autor hat mit Romanen wie „“La Negra“ (1999) und „Bastard“ (2004) demonstriert, dass er sich literarisch auch sicher zwischen Kolumbien und Korea zu bewegen vermag. Nach seinem Debut „Friss und stirb trotzdem“ (1997) und dem Unterschichten-Roman „Berliner Verhältnisse“ (2005) siedelt Zelik das Geschehen einer Erzählung jetzt erneut in der Hauptstadt an. Parallel zur Lebenskrise seines Protagonisten Daniel baut sich 2010 die Euro-Krise auf, in der Griechenland der Staatsbankrott droht. Auslösender Moment der Krise Daniels, aus dessen Perspektive das Geschehen in der Regel erzählt wird, ist ein Krankenhausaufenthalt seines Erzeugers Fil. Der 48-jährige Vater leidet an einer Lungenfibrose. Die Ärzte versetzen ihn in ein künstliches Koma. Der Titel des Romans spielt in Anlehnung an einen Essay von Jean-Luc Nancy auf das Spenderorgan an, das Fil zum Überleben benötigt. Die Vorstellung eines transplantierten Organs im eigenen Körper bietet dem Roman leitmotivisch Anlass zu Reflexionen über Fragen der Identität.

„Warum ging es damals eigentlich ständig um Gewalt?“

In Rückblenden rekapituliert der Roman das Leben Fils. Geboren 1962 avanciert er Anfang der 80er-Jahre zum Kreuzberger Hausbesetzer und zum Organisator von Supermarkt-Plünderungen. Nebenbei zeugt Fil 1985 in einer Affäre Daniel, der in der Provinz bei seiner Mutter aufwächst. Eine ernstere Beziehung scheint Fil zu der Rumäniendeutschen Michaela unterhalten zu haben, die Daniel auf dem Balkan aufsucht. Seine Suche nach der Identität des Vaters entwickelt sich zur Selbstsuche, die Reise gerät zur Initiation, die Daniel die Möglichkeit eines anderen Lebens ohne Facebook aufweist.

Langsam setzt sich für Daniel ein Bild seines Vaters aus den Mitteilungen verschiedener Informanten zusammen. Seine zentrale Frage zur Geschichte Fils lautet: „Warum ging es damals eigentlich ständig um Gewalt?“ – Brisant ist Fils Freundschaft mit einem gewissen Toni, der sich einer „militanten Gruppe“ angeschlossen hat. Michaela erklärt Daniel, dass diese Gruppe, mit der sein Vater sympathisiert habe, die staatliche Asylpolitik bekämpft und Ausländerbehörden in Brand gesetzt habe. In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre habe die Gruppe begonnen, „auf Repräsentanten dieser Asylpolitik“, auf „arrogant auftretende Asylrichter“ Anschläge zu verüben: „Man habe ihre Autos in Brand gesetzt und schließlich auch auf sie geschossen, allerdings nur auf die Beine“. Über die Gruppe erfährt man im Roman, sie habe sich anders als die RAF aus Leuten mit einem „normalen Leben“ zusammengesetzt. Toni habe für sie bei Aktionen den Polizeifunk abgehört. Fil habe seinem Freund bei der Anlage eines Waffenverstecks geholfen. Doch eines Tages sei Toni zur Polizei gegangen und habe gegen die Gruppe ausgesagt. Bevor die Polizei das Depot habe ausheben können, habe Fil es aber ausgeräumt.

Es dürfte Zelik klar sein, dass er sich mit dieser Art der Erzählung auf das Genre einlässt, das man Schlüsselroman nennt. Auf dieses Terrain sollte sich ein Autor in diesem Fall wohl nur dann begeben, wenn er nichts weiß von dem, was einen lesenden Staatsanwalt über bereits bekannte Details hinaus interessieren könnte. Die Parallelen zwischen der ‚Gruppe‘ und den Revolutionären Zellen sind unverkennbar. Kaum verdichtet und verschoben ist die szenebekannte Geschichte von Tarek Mousli, der als Kronzeuge der Polizei erzählte, dass sich im Kreuzberger Mehringhof ein Waffendepot befinde. Die spektakuläre Razzia im Jahr 1999 verlief erfolglos, doch verhaftete die Polizei auf der Grundlage der Aussagen Mouslis vom Hausmeister des Mehringhofs bis zum Leiter des Akademischen Auslandsamts der Technischen Universität eine Reihe von Personen, denen eine Beteiligung an den Anschlägen der RZ nachgesagt wird.

Der Roman bietet auch Einblicke in den Zerfall einer linken Szene, die den Zenit ihrer Mobilisierungsfähigkeit mit der Demonstration gegen die IWF-Tagung 1988 überschritten hat. So erwähnt er ehemalige Hausbesetzer, die Ende der 90er-Jahre plötzlich mit geerbtem Geld Immobilien kaufen. Fils Vater besitzt offensichtlich weder eine Arztpraxis noch eine Tankstelle. Sein Beispiel zeigt, dass man auch in Würde als Buchhalter einer selbstverwalteten Klempnerei alt werden könnte, wenn einen der Allmächtige nicht ins Koma fallen und an der Schwelle zum Tod hängen ließe.

„Die Schwelle überqueren“

Während sein Vater auf der Intensivstation liegt, führt auch Daniel ein Leben im „Limbus“, der Vorhölle. Im Freundeskreis spielt er die Möglichkeiten durch, sich politisch zu engagieren, wählen zu gehen, vielleicht sogar in eine Partei einzutreten: Politisch könnte auch sein, wer vegan isst und aufs Autofahren verzichtet – oder aber derjenige, der Autos anzündet. Jedenfalls sollte man sich „für etwas engagieren“, und zwar für „etwas Nützliches“. Raul Zelik selbst, inzwischen Professor für Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens, hat sich für den Eintritt in die „Linke“ entschieden. Zu den Stärken seines politisch engagiert geschriebenen Romans gehört, dass er Leser nicht suggestiv zu einer Entscheidung drängt, sondern Fragen stellt und ihnen das Denken überlässt.

Die Romanfigur Daniel treibt auch noch die „Sehnsucht nach etwas Anderem“ um. Die richtige Frage stellt ihm Dem, in die sich Daniel verliebt: „ob er es nicht auch komisch finde, dass erst kein Geld da war für zwanzig Euro Hartz IV mehr im Monat, jetzt aber plötzlich problemlos dreihundert, vierhundert Milliarden Euro zur Rettung von Banken verteilt werden“. In einer Sexszene zwischen Dem und Daniel macht sich ein auktorialer Erzähler in experimenteller Kleinschreibung bemerkbar, der erklärt, dass die Münder der beiden synästhetisch „rot, süß“ wie „erdbeeren“ schmecken. Das ist zwar besser als die „Gummibärchen“, die der Autor bei einer ganz anderen Gelegenheit als Vergleich für Brustwarzen bemüht hat. Doch auch Erdbeeren sind nicht jedermanns Geschmack, manchmal genügte ein dezenter Gedankenstrich. – Dem verlässt Daniel genauso abrupt, wie sie eines Tages wieder aus Marokko nach Berlin zurückkehrt. Zeliks Roman ist auch eine Liebeserklärung an die Stadt mit ihren Gerüchen und Geräuschen. Wer mit der Topologie des Berliner U-Bahnnetzes und dem Geflecht der Straßenzüge zwischen Maybachufer und Mehringhof lebendige Erinnerungen verbindet, für den ist „Der Eindringling“ sicher lesenswert. Daniels Berliner Verhältnisse klären sich erst bei einem spätherbstlichen Spaziergang mit Dem um den Schlachtensee, der eine Fluchtlinie aus dem Limbus aufzeigt. Der Roman endet an der Eingangstür zu einem Ausflugslokal, wo er das Paar „die Schwelle überqueren“ lässt.

Titelbild

Raul Zelik: Der Eindringling. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
291 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126585

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