Trauerspiel als Bauernposse

Werner Röcke legt eine mustergültige Edition von Heinrich Wittenwîlers „Der Ring“ vor

Von Niels PenkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Penke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter den Romanen der mittelhochdeutschen Literatur nimmt Heinrich Wittenwîlers Untergangsgroteske „Der Ring“ einen besonderen Rang ein. Weniger, weil am Ende der verstörend obszön und in ihrer Gewalttätigkeit überaus komisch dargestellten Handlung kaum noch eine der Figuren am Leben ist, als vielmehr wegen seiner sperrigen Komposition, die der Drastik einen hochmoralischen Sittenspiegel gegenüberstellt, ohne dabei eine letztgültige Intention zu verraten. Der um 1400 niedergeschriebene „Ring“ wird als Lehrbuch eröffnet, um „den Lauf der Welt“ zu erklären und darin zu unterweisen, „was man tun und lassen soll“. Aus Zwecken der Anschaulichkeit seien die Lehren mit dem „Geschrei der Bauern“ vermischt worden, um über die sich dazwischen eröffnende Differenz den Schauwert zu erhöhen. Die entsprechenden Passagen sind eigens mit grünen und roten Farblinien gekennzeichnet, um die Zugehörigkeit zu „Ernst“ und „Fröhlichkeit“ zu markieren.

So weit, so gut. Allein unterläuft der Text sich und seine hehren Ansprüche selbst. Und zwar permanent. Mit großer Virtuosität. Denn die klaren Grenzziehungen sind rhetorisch vorgeschobene Behauptungen – in der narrativen Praxis sind sie keinesfalls so deutlich aufrechterhalten. Die Frage, ob aus der negativen Ästhetik und Moralistik auf die Affirmation ihrer Gegensätze geschlossen werden darf, bleibt offen.

Erzählt wird die Geschichte der Brautwerbung des jungen Bauern Bertschi Triefnas um die „adlige Schönheit“ Mätzli Rüerenzumph. Die Struktur dieser Handlung, das mit einem Turnier zu Minnewerbungszwecken beginnt, ist dabei von Anfang an deutlich an literarischen Traditionen des Mittelalters angelehnt, die jedoch fortwährend invertiert und parodiert werden. Statt adliger Ritter treten ungeschickte, mit Alltagsgegenständen ausgerüstete Bauern auf Eseln gegeneinander an und die angebetete „Dame“ erweist sich als mit betont „hässlichen“ physischen Attributen und Charaktereigenschaften ausgestattetes Gegenteil einer idealisierten Minneherrin. Die umfangreichen lehrbuchartigen Ratschläge erzeugen dadurch einen Bruch, der nicht auflösbar ist. Figuren, die in ständigem performativem Widerspruch zu ihren lebenspraktischen Empfehlungen und moralphilosophischen Erörterungen handeln, sind Vorbilder ex negativo – wie aber das „Richtige“ beschaffen und umzusetzen ist, bleibt Witternwîler schuldig. Am Ende stehen nach aus dem Ruder gelaufenen Hochzeitsfeierlichkeiten und einem zum Weltkrieg ausgedehnten Feldzug zweier verfeindeter Dörfer die wenigen Überlebenden knietief im Blut der Erschlagenen; Bertschi findet sein Lappenhausen zerstört und seine Familie getötet, zieht als Einsiedler in den Schwarzwald und findet in „tiefer Frömmigkeit“ Läuterung.

„Und so geriet die Bauernposse zum Trauerspiel.“

„Der Ring“ ist als Parodie auf Rittertum und Minnewesen mit ihren spezifischen Ehr- und Moralvorstellungen, die fortwährend an der erzählten Lebenspraxis scheitern, ein Zeugnis des von Johann Huizinga beschriebenen ‚Herbst des Mittelalters‘, in dem die Brüchigkeit der gesamten Konzepte deutlich wird. Damit einhergehend ist „Der Ring“ auch ein literarischer Abgesang auf den höfischen Roman und die Heldenepik, deren Protagonisten zahlreich auftreten und entscheidend zur allumfassenden Vernichtung der erzählten Welt beitragen, ohne dass ihr Heldentum und ihre hehre Sittlichkeit einen Beitrag zu ihrem Fortbestand leisten können.

Auch wenn dem „Ring“ keine große Leserschaft vergönnt war – er gilt bis ins 19. Jahrhundert als Text „ohne Leser“ – ist er vor allem als anspruchsvoller Interpretationsgegenstand der mediävistischen Forschung lebendig geblieben.

Diesem Umstand verdankt sich auch diese jüngst erschienene, von Werner Röcke besorgte Edition, die die Versäumnisse ihrer Vorgängerinnen nachzuholen verspricht. Litten die bisherigen Ausgaben des „Rings“ vor allem daran, dass sie allesamt einzig den normalisierten Text Edmund Wießners von 1931 abdruckten, dessen Konstitution und Änderungen allerdings nie transparent gemacht wurden, bietet vorliegende Edition erstmals neben Wießners Fassung den transkribierten Text der einzigen, der (vormals Meininger, jetzt Münchener) Handschrift.

Im synoptischen Abdruck von buchstabengetreuem Originialtext, Wießners Transkription und einer neuen Übersetzung durch Werner Röcke wird so erstmals nachvollziehbar, wie die editorischen Eingriffe Wießners Versuche darstellten, unklaren Stellen der Handschrift einen spezifischen Sinn zuzuweisen. Im akademischen Unterricht stellte die von Horst Brunner besorgte Übersetzung bei Reclam eine weit verbreitete Standardausgabe dar. Zeichnete sie sich durch Lesefreundlichkeit aus und war für ein stoffinteressiertes Publikum völlig hinreichend, konnte sie wissenschaftlichen Ansprüchen in manchen Teilen nicht genügen, weil sie den mittelhochdeutschen Text nach Wießners Edition wiedergab, auf dem auch die Übersetzung basierte.

Röckes Edition hingegen ist für alle Forschungs- und Leseinteressen geeignet. Ein umfangreicher Stellenkommentar und ein knappes, aber sachdienliches Nachwort, das Einblick in die wesentlichen Forschungspositionen der letzten Jahrzehnte gibt und sich durchaus überzeugend an einer Vermittlung zwischen konträren Deutungen versucht, machen den facettenreichen Text auch für ein nicht fachwissenschaftlich ausgebildetes Publikum nachvollziehbar. Von daher ist diese Edition mustergültig zu nennen, da sie wissenschaftlich alles leistet, was an bisherigen Ausgaben kritisiert wurde und sich zudem durch die gute Informationslage zugleich als Einführung handhaben lässt.

Titelbild

Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Text - Übersetzung - Kommentar.
De Gruyter, Berlin 2012.
516 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783110253832

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch