Die Selbstbehauptung der Stabheuschrecke

Angelika Klüssendorf erzählt mit „Das Mädchen“ die brutale Geschichte einer Kindheit am Rande der Gesellschaft der DDR

Von Dorothea HansRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothea Hans

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Mädchen ist stark, ihre Geschichte grausam. Genauso schreibt Angelika Klüssendorf ihren Episodenroman. Ohne Umschweife, im Stil völlig unaufgeregt und in den Bildern bedrückend auf den Punkt gebracht. Zu Recht stand „Das Mädchen“ im Herbst 2011 auf der Short List des Deutschen Buchpreises.

Ein Mädchen und sein kleiner Bruder sind schon seit Tagen allein in der Wohnung eingesperrt. Die Toilette befindet sich auf dem Flur, und so müssen die Beiden ihre Notdurft in einem Eimer verrichten. Aus Langeweile wirft sie den Inhalt dieses Eimers aus dem Fenster: „Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.“ So beginnt der Roman.

Angelika Klüssendorf entwirft die Kindheit und Jugend eines emotional verwahrlosten, körperlich und seelisch misshandelten Mädchens, das seinen trostlosen Unterschicht-Alltag der DDR der 1970er-Jahre nüchtern und distanziert erlebt. Die tyrannische Mutter lebt ihre unkontrollierte Wut an ihren beiden Kindern aus. Der ständig abwesende Vater ist Säufer, Schläger und Krimineller. Der kleine Bruder zieht sich, ganz sich selbst überlassen, aus der Welt zurück. In der Schule ist das Mädchen ein Außenseiter, auch bei den autoritären Lehrern.

Das Mädchen hat niemanden, auf den es sich verlassen kann. „Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt“, die Mutter prügelt immer. Um sich selbst zu schützen, hat sie Mechanismen der Flucht verinnerlicht. „Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da.“ Nichts ist schön in ihrem Leben und doch entdeckt sie etwas. Bücher wie „Der Graf von Monte Christo“, „Brehms Tierleben“ oder Grimms Märchen verschlingt sie bewundernd. Sie geben ihr Halt wo keiner ist.

Was sie nicht begreifen kann, erklärt sie sich in Metaphern. „Alex steht bewegungslos da, stumm wie ein Fisch, eine Schollenlarve, denkt sie, die noch unfertig in aufrechter Haltung schwimmt, und die Mutter ist ein Zitterwels, der, wenn man ihn berührt, elektrische Schläge austeilt.“ Und auch, um sich selbst zu sehen, bedient sie sich der Vergleiche aus Brehms Tierreich. „Sie kommt sich wie eine Stabheuschrecke vor oder ein Stelzvogel; lange schlaksige Gliedmaßen, zwei Brustwarzen, der Bauch leicht geschwollen und ein nackter Hamster zwischen den Beinen.“ Sehnlichst erwartet sie die pubertäre Entwicklung ihres Körpers. Sie schlingt das Essen in sich hinein. Doch der geschundene Körper mag keine Rundungen annehmen.

Mehrmals wird sie beim Ladendiebstahl erwischt. Sie verschluckt eine Mine in der Schule. „Sie will, dass man sie sieht, sie will nicht wirklich sterben.“ Dem halbherzigen Selbstmordversuch folgt die Einweisung ins Kinderheim zur „Umerziehung fehlentwickelter junger Menschen“. Der DDR-Staatsapparat übernimmt. Fast ein Befreiungsschlag. Nicht, dass es ihr dort besser ginge als bei der sadistischen Mutter, doch hier beginnt sie ihre Selbstbehauptung auszuleben. „Sie ist beim Langstreckenlauf die Schnellste in der Klasse, wenn die anderen nicht mehr können und nach Luft schnappen, fängt sie gerade erst richtig an.“ Doch ihr Status ändert sich dort auf perfide Art und Weise. Durch das Einschüchtern und Drangsalieren der schwächeren Kinder wird sie plötzlich wahrgenommen. Das unsichtbare Mädchen vom Rande der Gesellschaft erringt den langersehnten Status. Doch ohne es zu wollen, tritt sie in die Fußstapfen der gewalttätigen Mutter.

Atemlos verfolgt der Leser diese zutiefst traurige und berührende Geschichte, die keinen Raum für Mitleid lässt. Klüssendorf schafft es, das Furchtbare und Schreckliche in berührend schöne Prosa zu setzen, womit ihr ein grandioses Meisterwerk gelingt. Mit bewusster Auslassung von Details kann Klüssendorf alles sagen und öffnet so für den Leser den Kern ihrer Charakter- und Gesellschaftsstudie. Intensiv und unsentimental beschreibt sie die Kindheit eines Kindes, das keines sein darf. Ohne Bewertung erklärt die Autorin die Verhaltensmechanismen ihrer zerrütteten Charaktere. Klüssendorf lässt alles Überflüssige weg. Sie gibt dem armen Mädchen nicht einmal einen Namen. Doch die 3. Person schafft nur eine scheinbare Distanz, ist es doch letztendlich die Perspektive des Mädchens selbst.

Hier spannt sich der Bogen vom Sprachstil der Autorin zu der Geschichte, die sie erzählt. Denn nur durch das Benennen aller Grausamkeiten wird für das Mädchen ein Überleben möglich. Es ist Teil der Selbstbefreiung, den dieser unzerstörbare Charakter durchlebt. Es ist Symbol für den Hunger des Mädchens auf das Leben, es zeigt, wie sie jedes Detail einsaugt. Klüssendorfs Sprache spiegelt das Elend ihrer Protagonistin und macht gleichzeitig klar, wie Kinder ihre Welt sehen. Nämlich so wie sie ist. Alles wird hingenommen. Die Brutalitäten der Mutter, all die Härte, die sie erfährt, nimmt das Mädchen als gegeben hin. Irritiert wird sie nur von Milde und Güte, die sie nie erfahren hat. Wo der Leser zu hoffen wagt, setzt das Mädchen zur Flucht an. Als sich die neue Freundin des Vaters sich um sie bemüht, kehrt sie zurück in die Arme der verhassten Mutter, um später die von ihr gelernten Verhaltensmuster nachzuahmen.

Titelbild

Angelika Klüssendorf: Das Mädchen. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011.
183 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783462042849

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