Schatten, Licht — Leben

Sigfrid Gauchs neuer Roman „Schattenbilder“ gruppiert Ereignisse eines Jahrhunderts um zwei Schicksale

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigfrid Gauch wirft in seinem Roman „Schattenbilder“ ein literarisches Netz aus, in dem ein gutes Jahrhundert verfangen ist. Zentrale Fäden des Netzes, seine stützende Struktur, sind die Schicksale von Isolde Freywald und ihrem Sohn Fabian. Von diesen beiden Fäden zweigen die zahllosen Verästelungen ab. Während man bei der Abfolge der ersten Kapitel noch den Eindruck hat, der Roman könne mit seinen Szenenwechseln und Zeitsprüngen bereits die brauchbare Vorstufe für das Drehbuch eines TV-Mehrteilers sein, wird das Geflecht der Schicksale und Ereignisse schon bald dichter; die Aufmerksamkeit des Lesers wird stärker gefordert. Dies ist ein Charakteristikum aller Romane dieses Autors. Wenn Sigfrid Gauch zu Beginn durch den Mund des Predigers bei der Beisetzung der weiblichen Hauptperson eine Apologie für die Dichte und Fülle der geschilderten Biografie Isolde Freywalds vorbringt („eine Biographie, die kein Lektorat einem Schriftsteller durchgehen lassen würde“), zeigt sich dies als eine der wenigen überflüssigen Stellen des Romans. Einer solchen Entschuldigung hätte es nicht bedurft. Die Komplexität der Erzählung ist weit weniger der kaum glaublichen Besonderheit des beschriebenen Lebens als weit eher der Genauigkeit bei der Beobachtung und Schilderung dieser Vita und der mit ihr verwobenen Biografien geschuldet.

Der Titel des Romans wirkt hingegen ein wenig irreführend. Weder sind es die verschatteten Bilder einer fernen Vergangenheit, denn der erinnernde Blick des Erzählers vermag noch die letzte Patina von den alten Bildern abzuwischen, sodass sie in voller Klarheit und Schärfe neben die Bilder der Gegenwart treten. Ebenso wenig ist es eine besonders düstere Vita, der sich die Erzählung widmet. Die Allgegenwart des Tragischen, der Unglücke, der selbst- oder fremdverschuldeten Tode und selbst die Speerspitzen, die äußersten Enden des Schreckens – die Kinder und Frauen auf der Kreissäge bei der Strafaktion der Waffen-SS im Russlandfeldzug – können zur Gänze den Eindruck abschwächen, dass weitere hochkomplexe Romane voller Tragik geschrieben werden könnten, wenn man mit ähnlicher Genauigkeit des Beobachtens und Geschick der Schilderung dessen, was man beobachtet, das Leben anderer Personen und alle ihre Beziehungen über den gleichen Zeitraum verfolgen würde.

Die Tragik ist gleichsam notwendiger Bestandteil des Lebens in der erzählten Zeit, die immerhin die zwei Weltbrände des letzten Jahrhunderts die unruhige Zeit davor und dazwischen, sowie die Zeit des kalten Krieges einschließt und sich bis zum Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts erstreckt. Ein Sprichwort sagt: „Jedes Dach hat sein ‚Ach‘“. Die Tragödie ist Teil jedes Beziehungsgeflechts, nur wird (bedauerlicherweise) nicht jedes Leben zum Gegenstand einer Erzählung wie Gauchs Schattenbilder.

Dass es auch Gauchs eigene Schattenbilder sind, der Text stark autobiografisch aufgeladen ist, wird bereits dem Leser klar, der die Biografie des Verfassers nur durch die wenigen Angaben auf dem Einband kennt. Da sind etwa die Spuren des Vaters, die schon gesondert schreibend Bearbeitung gefunden hatten, die Parallelen des Bildung oder Werdegangs von Sigfrid Gauch und Fabian Freywald, die Bekanntschaften aus dem Kultur und Geistesleben, das ländlich pfälzische Lokal Offenbachs am Glan und seiner Nachbargemeinden. Nicht zuletzt andere, tief traumatische Erlebnisse, deren Schilderung bereits aus Gauchs zweitem Roman Winterhafen bekannt sind und die zumindest auf einen autobiografischen Hintergrund schließen lassen.

Nur wer sich dem idealen Leser, der in letzter Steigerung mit dem Autor identisch werden müsste, sehr weit annähert, wäre wohl im Stande, die Trennlinie zwischen Fiktion und Intro- beziehungsweise Retrospektion dieses Autors zu markieren. Dass ein starkes autobiografisches Moment nicht im Widerspruch zu großer Fiktion steht, ist nichts Neues; sonst hätten Werke wie „Buddenbrooks“ kaum Eingang in den Kanon gefunden. Es ist jedoch stets die Frage, wie das Erlebte verarbeitet, mit den Mitteln der Kunst in ein Außen des Verfassers gestellt wird, wodurch aus dem Erlebten selbst ein Anderes wird. Der künstlerische Prozess gleicht einer Transsubstantiation. Was vorher bestand – die Erlebnisse des Autors – ist auch nach Abschluss des Prozesses erkennbar. Ihr Wesen ist jedoch gewandelt, vom erinnerten Material hin zum fiktionalen Stoff, der die Rede von frei erfundenen Personen und Handlungen wahr macht.

Sigfrid Gauchs Roman „Schattenbilder“ ist einerseits ein drei Generationen umgreifendes Familienepos und andererseits denkbar weit von diesem Genre entfernt. Wie schon der Vorgänger „Winterhafen“ zeigt die Erzählung das Faible des Autors für die Verschlingung verschiedener Zeit- und Handlungsebenen. Viele der einzelnen Geschichten entlang der zentralen Stränge gäben selbst Stoff für einen Roman und erscheinen als hochkarätig verdichtetes Kondensat dessen, was man erzählen könnte. Gerade diese Geschichten entlang der eigentlichen Geschichte – etwa die Schilderung des Hüttenunglücks in den Röchling Stahlwerken – sind es, die Schattenbilder so lesenswert machen.

Neben den Schatten im eigentlichen Sinne, den dunklen, teils tiefschwarzen Stellen der Biografien, darf nicht vergessen werden, dass Schattenbilder viele helle Stellen enthält. Besonders hell wird es im Gauchs Erzählung, wenn von Fabians Beziehung zu Juliane, seiner leidenschaftlich Geliebten und späteren Ehefrau, die Rede ist. Sexualität literarisch zu schildern ist stets eine Gratwanderung zwischen schwülstigem Kitsch und pornografischen Realismus. In „Schattenbilder“ scheint der Grat hingegen eine breite, gut gangbare Straße zu sein. Fabian und Juliane lesend bei der Liebe zu erleben, ist anregend, ohne erregend sein zu wollen. Die Schilderung gleicht stellenweise eine Hommage an das Schöne, dass zwei Menschen, die sich begehren, einander zu geben oder voneinander zu empfangen vermögen. Diese und andere helle Flecken, die mit der Dunkelheit des Romans kontrastieren, können als Beleg für die Auffassung gelten, dass „Schattenbilder“ nicht das besonders düstere Leben schildert, sondern das Leben als solches, dem Tragik und Tod als notwendige Bestandteile inhärent sind.

Titelbild

Sigfrid Gauch: Schattenbilder. Roman.
Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2012.
283 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783860999288

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