„Was gesagt werden muß“ und „Was Freude bringt“

Der Gedichtband „Eintagsfliegen“ von Günter Grass

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach dem Skandal um Was gesagt werden muß konnte der neue Gedichtband von Günter Grass einiger Beachtung sicher sein. Aufmerksam wurde registriert, dass der Autor einen Vers in dem viel gescholtenen Gedicht geändert hat, um die israelische Regierung als Objekt seiner Kritik erkennbarer zu machen. Dass er auch die Gelegenheit nutzte, um sein Europa zu beschreiben (Mein Europa), nachdem er den Umgang mit Griechenland vor kurzem beklagt hatte, fand selten Erwähnung, wohl weil Europas Schande nicht viel Grund zur Empörung geliefert hatte. Seine ironische Adresse An die Gemeinde meiner Feinde hat diese offenbar nicht aufgebracht. Schließlich hat sich auch die Hoffnung mancher, das Lobgedicht auf Mordechai Vanunu, Ein Held unserer Tage, könnte einen neuen Skandal hervorrufen, nicht recht erfüllt. So ist es möglich, das neue Werk als Literatur zu würdigen.

Eintagsfliegen ist mit seinem Querformat und dem kladdenartigen, schwarz-roten Umschlag ein besonderes Buch. Die 87 Gedichte, die es enthält, hat Grass selbst mit aquarellierten Zeichnungen teils illustriert, teils dekoriert, wobei er immer wieder das Titelmotiv aufgegriffen hat. ‚Gelegentliche Gedichte’ heißen die Texte im Untertitel, und Gelegenheitsgedichte sind sie tatsächlich, die offenbar aus verschiedenen öffentlichen und privaten Anlässen entstanden sind. Momentaufnahmen aus dem eigenen, fortgeschrittenen Leben, Naturbilder, Erinnerungen, Träume, politische Kommentare, poetische Fantasien, poetologische Reflexionen, Nachrufe auf Kollegen: Das alles steht hier nebeneinander. Es sind kurze und lange Gedichte, zumeist in freien Versen, im Ton mal ernst, ja pathetisch, dann wieder spöttisch, ironisch und selbstironisch: im Ganzen eine reiche Mischung.

Nicht alles ist dem Lyriker Grass gelungen. Manche Formulierungen sind zu geläufig: Da ist ein Staatsgeheimnis „abgeschottet“ (Ein Held unserer Tage), ein Sturm macht „Schlagzeilen“ (Herbstliche Ernte) oder jemand hält sich „bedeckt“ (Ängstlich besorgt). Als wollte er solche Geläufigkeiten wettmachen, reichert Grass seine Verse gern mit Manierismen an. Dazu gehört die Auslassung des Prädikats, die einen hohen Ton schaffen soll, aber nicht immer einen künstlerischen Sinn hat, wie in den elliptischen Versen von Atempause, dem gelungensten Gedicht über das Altern. Zumindest eigenwillig ist die Verwendung von Wörtern wie „käuflich“, „handlich“ und „hinterdrein“, die mehr Vergnügen am ausgefallenen als am treffenden Wort verraten.

Man kann Grass auch vorwerfen, dass ihm nicht zu allen seinen Themen viel eingefallen ist. Was er über das Warten an roten Ampeln (Aus Sicht des Beifahrers), die Sportschau (Und am Samstag die Sportschau) oder Talkshows (Über verfälschten Geschmack) verlauten lässt, ist nicht tiefer als das, was die meisten darüber sagen würden. Mehr als eine Beobachtung, etwa die über die „Gruppen Japaner“ in Tübingen (Auf Besuch in Tübingen), bleibt gewöhnlich. Mancher Einfall, wie der über Lesen und Riechen in Duftmarken, erfährt nicht die ihm gebührende Ausarbeitung.

Schwache Verse fallen allerdings bei der Beurteilung eines Gedichtbands am Ende nicht immer schwer ins Gewicht – solange es in ihm gute gibt, die sich einprägen, die man wiederlesen kann, ja muss. Grass sind in diesem Buch nicht nur viele solcher Verse, sondern auch einige solcher Gedichte gelungen. Fast immer sind sie kurz. Tatsächlich ist der Lyriker Grass am besten, wenn er sich konzentriert, auf einzelne Beobachtungen und Gedanken, und sie in wenige Worte und Zeilen fasst. Wenn er sich vergleichsweise viel Raum gönnt, fangen seine Gedichte manchmal an, „episch“ zu „wuchern“ (Kleine Versschule) und allzu wortverliebt zu werden.

Die selbstauferlegte Kürze dagegen zwingt Grass zu dichten und führt zu meisterlichen Versen wie Meine Füllfeder, Reflex, Guter Rat. In ihnen ist kein Wort zuviel und kein Vers zu lang, und mitunter fehlt sogar das Hauptwort auch dieser Gedichte: „Ich“. Manche von ihnen sind hintersinnig-witzig wie Als Fahrenheit und Celsius, manche streifen die Satire wie Dreizehn einfache Sätze. Manche halten auch nur knapp und in geradezu weiser Zurückhaltung fest, was der Autor wahrgenommen hat. So ist es etwa der Fall in Was Freude bringt:

Kastanien,
die im Oktober
feucht in der Hand liegen.

Der Kinder Wünsche,
solange der Dezember dauert,
bis endlich der Baum zu nadeln beginnt.

Sobald im Februar
täglich längere Tage
Versprechungen machen.

Frühtau,
der im August
das Netzwerk der Spinnen versilbert.

Solche Beobachtungen machen dem Autor Freude. Und dem Leser auch.

Titelbild

Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
110 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783869305141

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