„Ein Lesemeister im übernatürlichen Bilderbuch“

Wiebke-Marie Stock schreibt eine glänzende intellektuelle Biografie Hugo Balls

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als literarischer Avantgardist und dadaistischer Bischof, als gegen den Krieg und sein Krieg führendes Heimatland polemisierender Publizist, als Sympathisant revolutionärer und anarchischer Positionen hat Hugo Ball bleibende Bekanntheit erlangt. Dass derselbe Hugo Ball kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs – ob aus Enttäuschung über eine ausbleibende politisch-moralische Neubesinnung in Deutschland oder doch aus empfundener geistiger Not – in die Arme der katholischen Kirche zurückkehrte, in der er als Kind aufgewachsen war, bleibt für viele seiner Bewunderer allerdings ein Grund zur Irritation. Im September 1927, im Alter von nur 41 Jahren verstorben, hinterließ Ball ein Werk, das von den verschiedenen disparat scheinenden Aspekten seines Lebens gekennzeichnet ist: Nietzsche-Anhängerschaft und Dada-Literatur, politischer Journalismus und orthodoxer Katholizismus.

Ein in oberflächlicher Betrachtung von solchen Brüchen gekennzeichnetes Autorenleben lädt zum Psychologisieren über Kontinuitäten und Diskontinuitäten geradezu ein. Mit Wiebke-Marie Stocks „intellektueller Biographie“ Hugo Balls ist nun allerdings ein Buch erschienen, das von solchen Spekulationen glücklicherweise ganz unbelastet ist. Dabei kommt der Autorin nicht nur die seit einigen Jahren gleichfalls im Wallstein Verlag erscheinende, inzwischen beinahe abgeschlossene Ausgabe der „Sämtlichen Werke und Briefe“ Balls zugute. Mehr noch nähert sich Stock, die selbst Philosophin und Religionswissenschaftlerin ist – mit besonderem Interesse für spätantike christliche Literatur –, Hugo Ball nicht bloß als einem avantgardistischen Faszinosum an. Vielmehr wählt sie den gewissermaßen umgekehrten Zugang zu dem Asketen und Mystiker Ball, den über den ihm sehr am Herzen liegenden spätantiken Theologen-Philosophen Dionysius Areopagita.

Ball selbst schreibt in seinem literarisierten Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“, Dada sei ihm zuerst als mystische doppelte Anrufung des Dionysius begegnet: „D.A. – D.A.“ Zugleich steht jener Autor, der in seinen Schriften den Eindruck vermittelt, der in der Apostelgeschichte erwähnte von Paulus bekehrte Areopagit zu sein, im Mittelpunkt von Balls 1923 erschienenem Buch „Byzantinisches Christentum“. Ball präsentiert in seinem Buch ein Triptychon frühchristlicher Heiligenviten: Johannes Klimakos, den Mönch mit der Himmelsleiter, zum Zweiten eben Dionysius Areopagita sowie Symeon Stylites, den sprichwörtlich gewordenen Säulenheiligen. Nachdem Hugo Ball seine politisch engagierte Publizistik aufgegeben hatte, stieß dieses Buch bereits in seiner Zeit auf ambivalente Reaktionen. Balls Zeitgenossen war aber das untergründig zeitkritische Anliegen des Werkes durchaus deutlich, wie Stock im zentralen Kapitel ihrer Arbeit aufzeigt. Diese Kritik seiner Zeit und seiner Zeitgenossen ist eine der geistigen Konstanten, die Balls intellektuelle Biografie kennzeichnen. Was im „Byzantinischen Christentum“ mit der religiös getönten Kritik an Gott- und Jenseitsvergessenheit endet, schließt den Bogen einer Auseinandersetzung mit Nietzsche, die Ball in seiner nicht abgeschlossenen Dissertation einst aufgenommen hatte.

Ball freilich wird nicht zum Reaktionär, der mit den ostkirchlichen Heiligenviten den Rückweg in ein gut christliches Mittelalter antritt. Unmittelbar nach Kriegsende publiziert Ball mit „Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ (1919) sein wohl umstrittenstes Buch: eine glühende Anklageschrift gegen Deutschland, seine Intellektuellen und seine Philosophie, die das Land in seinen politisch-moralischen Ruin geführt hätten. Die geistigen Grundlagen für den Weltkrieg entdeckt Ball in einer verhängnisvollen Allianz von Politik und Religion, Preußentum und Luthertum, und seiner Philippika fällt eine illustre Reihe großer Namen zum Opfer. Nicht allein Luther, der die „Freiheit des Christenmenschen“ in einer Allianz mit den herrschenden Verhältnissen dahingegeben und die Kirche der politischen Dienstbarkeit unterworfen habe – auch Immanuel Kant, Alexander von Humboldt, Georg Friedrich Wilhelm Hegel verwirft Ball. Ein gründlicher Umsturz deutscher Geistesgeschichte. Doch auch die katholische Papstkirche und ihre Anmaßungen kritisiert Ball vehement. Oft ist bemerkt worden, dass er sein Buch im Rahmen einer späteren Neuausgabe unter dem Titel „Die Folgen der Reformation“ (1924) um diese, die katholische Kirche kritisierenden Passagen bereinigt habe. Stock weist allerdings mit Recht darauf hin, dass gerade jene Stellen, in denen Ball Luther für dessen ursprünglich freiheitliches, die Kirche des Mittelalters kritisierendes Anliegen lobt, nicht getilgt werden. Ebenso bleibt Balls ablehnende Haltung gegenüber einer katholisch geprägten reaktionären Philosophie unverändert. Carl Schmitt etwa wirft er in einem ansonsten lobenden Artikel ein allzu negatives, feindseliges Menschenbild vor. Entsprechend bemängelt Ball auch bei Nietzsche dessen elitäre Verachtung der Schwachen und seine Zurückweisung des Christentums gerade dort, wo es sich den Ausgestoßenen der Gesellschaft zuwende.

Wiebke-Marie Stock spart freilich auch das schwierige Kapitel von Hugo Balls Verhältnis zum Judentum nicht aus. Namentlich Anson Rabinbach und Gert Mattenklott waren es, die Ball in den 1990er-Jahren den Vorwurf des Antisemitismus gemacht haben. Auf einer Linie mit der jüngeren Forschung votiert Stock hier für ein differenzierteres Urteil, das einen engen Zusammenhang zwischen Balls Kritik am deutschen Protestantismus und der am deutschen Judentum sieht. Wie Ball ein unheilvolles Überwiegen nationalistisch-obrigkeitsstaatlicher Tendenzen im Protestantismus seit Luther kritisiert, so kritisiere er auch deutschnationale Tendenzen gerade bei assimilierten Juden seiner Zeit, namentlich etwa bei Hermann Cohen oder Walther Rathenau. Gleichwohl bleibt Balls Kritik nicht frei von judenfeindlichen Stereotypen wie dem einer „exploitatorischen und merkantilen Tradition“, sodass Stock Ball zwar – mit Ernst Bloch – vom Vorwurf des „rabiaten Antisemitismus“ freispricht, ihm aber zugleich die zum antisemitischen Missbrauch einladende Missverständlichkeit seiner Äußerungen vorhält: Gerade Ball mit seinem „Bewusstsein für die gesellschaftliche Wirksamkeit von Worten“, der anderen gegenüber rücksichtslos Diskrepanzen von Denken und Handeln vorgehalten habe, bleibe in diesem Punkt für die Wirkung seiner Worte blind. Davon allerdings ist er nicht freizusprechen.

Stocks Arbeit umkreist ihren Gegenstand in sehr dichter und reduzierter Weise. Deshalb mag der Untertitel ihres Bandes – „eine intellektuelle Biographie“ – den Interessierten in die Irre führen. Es kommt dem Buch allerdings nur zugute, dass sich seine Leser nicht in biografischen Details verlieren. Hinzu kommt die profunde religionsgeschichtliche Kompetenz der Autorin. Manchen Leser mag es etwa überraschen, wenn er erfährt, dass Ball in seiner Deutung mancher spätantiker christlicher Denker dem heutigen wissenschaftlichen Forschungsstand bei allem Eigensinn doch so fern nicht lag. Wiebke-Marie Stocks „intellektuelle Biographie“ bietet daher eine ebenso notwendige wie wichtige Interpretation des scheinbar gebrochenen Lebenswegs von Hugo Ball. Damit aber macht sie uns zugleich dessen ebenso religiöse und humanistische Vision wieder besser zugänglich.

Balls Wertschätzung für die Religion ist eine Wertschätzung für ein bildhaftes Denken, welches nicht allein mit Sprache spielt, sondern um deren magische Wirkung weiß. Wo mit Nietzsche der Glaube und die Religion als sinnstiftende Kräfte aus der Welt verschwinden, Chaos und Irrsinn Raum gewinnen, gewinnt Hugo Ball im Rückzug auf das Innere den Glauben und die Religion aus der Ästhetik, als bildhaft vermittelte Erkenntnis, zurück. Entschieden lehnt er den „Rationalismus“ in religiösen Dingen ab. Stock identifiziert aus diesem Blickwinkel Symeon Stylites als die eigentlich im Mittelpunkt von Balls „Byzantinischem Christentum“ stehende Gestalt: Er steht heraus aus einer Zeit, welche die göttlichen Zeichen nicht einmal mehr zu erkennen, geschweige denn zu glauben vermag.

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Wiebke-Marie Stock: Denkumsturz. Hugo Ball. Eine intellektuelle Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
244 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835311848

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