Das Schweigen und der Schein

Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt in seinem beklemmenden Roman „Roter Flieder“ von der Stummheit einer Familie

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

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„Eine Viertelstunde, dachte er. Nicht zwei Minuten. Nicht fünf Minuten. Eine ganze Viertelstunde. Warum bin ich nicht pünktlich gewesen? Warum, warum bin ich verdammt noch einmal nicht pünktlich gewesen? Eine Viertelstunde hat er gewartet, auf den Knien, und da unten der Tod. Hinter ihm seine Freunde, seine Landsmänner mit vollgeschifften Hosen. Eine Viertelstunde. Ich habe mich nie wo verspätet. Noch nie. In einundsechzig Jahren. Warum jetzt? Ich hätte meinen Sohn gegeben. Ich hätte meinen eigenen Sohn gegeben. Eine Viertelstunde.“

Ein Fluch liegt auf der Familie Goldberger. Das zumindest glaubt Ferdinand Goldberger senior, der sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs als Ortsgruppenführer im österreichischen Rosental zur Exekution eines polnischen Zwangsarbeiters verspätet, die er befehligen soll. Diese Verspätung wirft er sich vor, weil er den Verurteilten länger als nötig auf seinen Tod hat warten lassen. Und wegen dieser Verspätung glaubt er, von Gott gestraft zu werden, dem Gott, der „heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied“.

Ein kleines graues Heft trägt diesen Glauben durch die Generationen; jeder Sohn findet es im Nachlass seines Vaters, sieht die unzähligen darin versammelten Stammbäume, anhand derer jeder Goldberger zählt, wer vom Fluch getroffen wird und wer nicht: Gewissheit ist nicht zu erreichen, nie geht die Rechnung auf. Und während nach außen hin alles gut ist – der Hof wächst, mit der Viehzucht wird viel Geld verdient – ist die Familie im Innern zutiefst verloren. Denn was allen Mitgliedern gemeinsam ist, ist das Schweigen: über sich, über die eigenen Gedanken, und über die Geschichte. Goldberger senior erzählt seinem Sohn Ferdinand nichts von der Exekution; er bittet seinen Enkel Paul um Vergebung, sagt ihm aber nicht, wofür; Ferdinand seinerseits spricht nicht über den Glauben seines Vaters, den er nach dessen Tod übernommen hat – sein Sohn Thomas, Pauls Bruder, der den Hof übernimmt, ist nach dem Tod seines Vaters wiederum entsetzt darüber, was seine Vorfahren so sehr beschäftigt hat, kann sich dem Gedanken daran aber auch nicht ganz entziehen. Und seine Tante Martha, die Tochter des alten Goldberger, fällt noch zu dessen Lebzeiten gar in das gleiche vollständige Schweigen, in dem auch schon ihre Mutter die letzten Lebensjahre verbrachte.

Als wäre dieses Schweigen, welches ein zentraler Bestandteil aller Romane des Österreichers Kaiser-Mühlecker ist, nicht schon genug, zeigt sich überdies eine oft fatale Eigenschaft der Familienmitglieder, eine gebrochene, irrige Wahrnehmung zu haben. Bestes Beispiel ist der unter Wahnvorstellungen und Selbstmordgedanken leidende Paul, der nach Südamerika gegangen ist, nachdem die Familie ihn verstoßen hat und der als Andenken an seine Heimat roten Flieder vor sein Haus pflanzen lässt. Nach seinem Tod erreicht die Angehörigen in Rosental ein Brief, der sie über sein Schicksal informieren will: „Dort liegen seine sterblichen Überreste begraben, nicht weit von den beiden Fliederbüschen, die er noch kurz vor seinem Tod pflanzte. Man sagte mir, es sei violetter oder dunkler Flieder – den roten, den er sich ausdrücklich gewünscht hatte, gäbe es nicht.“ Etwas später erfährt man, dass Paul den violetten Flieder immer rot genannt habe – eine winzige Verschiebung in der Wahrnehmung, nur eine Kleinigkeit des Ausdrucks, aber es ist doch bezeichnend. Denn die Familie ringt im Lauf der Zeit immer wieder um Gewissheit, um Sicherheit, ohne sie je zu erlangen. Zu tief ist das Schweigen in ihr verwurzelt, zu sehr beeinträchtigt sie ihre eigene Fehlsichtigkeit. Was eine Generation von der vorigen wissen möchte, erfährt sie nicht oder erst im Nachhinein, wenn es zu spät ist. Geschichte wiederholt sich, vielleicht nicht im Großen, aber im Kleinen.

Alles dies wird getragen von einer ruhigen, innigen Sprache, die in ihrer Langsamkeit ein feines Netz von Parallelen und Andeutungen, von Möglichkeiten und vor allem von Bildern entstehen lässt, welches einen genauen Blick erfordert, den Leser dann aber auch stark an sich zu fesseln vermag. Dem Gang der Zeit zu folgen, der eine ewige Wiederkehr des Gleichen mit sich bringt, fällt schwer, weil es beklemmend und verstörend ist. In einem Zug antiker Tragik wirkt der Glaube an den Fluch selbsterfüllend, lässt zugleich aber auch Raum für neue Hoffnung – nur einer müsste das Schweigen durchbrechen, meint man, um das Unglück abzuwenden. Dieses Wechselspiel gekonnt durchzuhalten ist das große handwerkliche Verdienst Kaiser-Mühleckers. Sein vierter Roman ist, wie die Vorgänger, kein hektisches, lautes Werk – er ist aber auch nicht mehr so nah am Stillstand wie seine Vorgänger. Nicht zuletzt diese Ausgewogenheit macht das Ganze zu einer bedrückend eindrücklichen Erzählung, die ebenso bestürzend wie lesenswert ist.

Titelbild

Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2012.
622 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783455404234

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