„Was könnte virtueller sein als das echte Leben?“

In Anthony McCartens neuem Roman „Ganz normale Helden“ wird die Geschichte des Superheros Donald Delpe ohne ihre Hauptfigur fortgesetzt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fortsetzungen teilen oft das Schicksal allzu ambitionierter Zweitwerke: Sie erreichen nicht die Qualität des Vorgängers. Bei Anthony McCartens internationalem Bestseller „Superhero“ aus dem Jahre 2006 (deutsch 2007 bei Diogenes) kommt noch erschwerend hinzu, dass dessen Held, das lakonische 14-jährige Comicgenie Donald Delpe, am Ende seinem Krebsleiden erliegt. Wozu also eine Fortsetzung?

Doch McCarten (Jahrgang 1961) hat diese Frage offensichtlich nicht tangiert. In seinem aktuellen Buch „Ganz normale Helden“ nimmt er uns wieder mit in die Familie Delpe und lässt Donalds älteren Bruder Jeffrey, seinen Vater James und Mutter Renata darin miteinander wetteifern, welche wohl die beste Art der Trauer um das jüngste Familienmitglied ist. Und erneut ist dem in Neuseeland geborenen Autor ein Roman gelungen, der zugleich berührt und zum Lachen reizt und den man mit dem Gefühl aus der Hand legt, ebenso brillant unterhalten wie unaufdringlich auf wichtige Themen unserer Zeit aufmerksam gemacht worden zu sein.

Jedenfalls ist es Jeffrey, Donalds fast 19-jähriger Bruder, dem es eines Tages reicht, dass seine Eltern sich bei dem Versuch, mit Donalds Tod fertig zu werden, immer weiter voneinander entfernen. Er hat die Nase voll von deren penibler Überwachung jedes seiner Schritte und der permanent angespannten Situation im Haus. Und schließlich quälen ihn selbst mannigfache Probleme des Erwachsenwerdens, für die weder Vater noch Mutter ein Sensorium besitzen. Also packt er ein paar Sachen zusammen, als Kind des Internetzeitalters natürlich seinen Laptop zuoberst, und verlässt über Nacht sein Zuhause. Um ihn wiederzufinden, denn ihren zweiten und letzten Sohn wollen sie natürlich nicht auch noch verlieren, sehen sich James und Renata gezwungen, ihm dahin zu folgen, wo er sich besser auskennt als sie: ins Internet.

„Life of Lore“ – man denkt an das Akronym „lol“ aus dem Netzjargon und die seit 2003 verfügbare, einst heiß diskutierte, inzwischen von sozialen Netzwerken wie Facebook, bei denen man sich nicht mehr hinter Avataren versteckt, ein wenig beiseite gedrängte virtuelle 3-D-Welt „Second Life“ – hat McCarten das Spiel getauft, in dem Jeff eine ganz große Nummer zu sein scheint. Und hier steigt Rechtsanwalt James Delpe mit Hilfe des Computerexperten seiner Kanzlei ein, um seinem Ältesten wieder nahe zu kommen. „Merchant of Menace“ nennt der sich, was James schon einmal imponiert, beweist der von Shakespeares „Merchant of Venice“ (Kaufmann von Venedig) hergeleitete Name doch, dass das Netz durchaus auch Raum für Kreativität und Erfindungsreichtum aller Art bietet. Und je mehr sich Delpe senior in dem abenteuerlichen Spiel Level für Level emporarbeitet, umso faszinierender kommt ihm diese für ihn gänzlich neue Welt vor, während ihm gleichzeitig Stück für Stück die alte Realität entgleitet, bis ihm die Mitinhaber seiner Kanzlei nahelegen, doch einmal für eine Zeit die Arbeit ruhen zu lassen.

Renata, Jeffreys Mutter, geht einen anderen Weg. In einem Online-Chat hat sie einen Mann kennen gelernt, der sich „Gott“ nennt, natürlich – wie jedermann heute – über eine E-Mail-Adresse verfügt und zusätzlich noch die Gabe beruhigend wirkender Rede hat. Dass sie ihren Mann über die langen nächtlichen Sitzungen mit dem geschickten Rhetor ebenso im Unklaren lässt wie der sie über seine rasant sich vollziehende Karriere in „Life of Lore“, bringt fast noch Unheil über die Familie. Doch zum Glück hat man ja Jeff, der in der Unübersichtlichkeit des Cyberspace einen klaren Kopf behält und die Eltern letzten Endes näher zueinanderbringt, als sie es vorher je waren. Dass mir dieser Romanschluss fast ein wenig zu ,happyendig‘ ausfällt, sei hier nur am Rande angemerkt – wirklich stören tut das nicht.

Mit bekannt leichter Hand und dem Gespür des erfolgreichen Dramatikers für sich zuspitzende Konflikte und pointierte Dialoge – bevor er 1999 seinen ersten Roman vorlegte, war Anthony McCarten bereits ein international bekannter Stückeschreiber – gelingt es dem Autor, seine Leser mitzunehmen auf eine Reise in die Virtualität, die die Figuren am Ende wieder realitätstüchtig macht. Hochkomisch liest es sich etwa, wie ein mit allen Wassern der Jurisprudenz gewaschener Kanzleimitinhaber sich aufmacht in Sphären, deren Gesetze und Regeln er erst mühevoll erlernen muss. Und natürlich begegnen dem Netznovizen alle Sorten von Hochstaplern und Betrügern, denen es die Anonymität gestattet, ihre mal harmlosen, mal gefährlichen Spiele mit dem Neuling zu treiben.

„Ganz normale Helden“ thematisiert den schwierigen Umgang mit Trauer und Schmerz in einer schnelllebigen Gesellschaft, die auch für tiefe Gefühle nur enge Zeitfenster übrig zu haben scheint, ehe die nächste Sensation alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht. Während Jeff seinen Eltern vorwirft, über den Tod ihres jüngsten Sohnes nicht hinwegzukommen und dabei ganz zu vergessen, dass der überlebende Bruder an der Schwelle des Erwachsenseins steht und eine ganze Menge eigener Probleme mit sich herumschleppt, interpretieren die Eltern Jeffs wachsende Distanz als Lieblosigkeit. In dieser am Anfang des Romans ausweglosen Situation ist es dann tatsächlich das Internet, welches die drei Delpes zunächst weiter auseinanderbringt, als das je der Fall war, sie aber letzten Endes über den Umweg der Virtualität auch wieder zu einer Familie macht.

Titelbild

Anthony McCarten: Ganz normale Helden.
Aus dem Englischen von Gabriele Kempf-Allié und Manfred Allié.
Diogenes Verlag, Zürich 2012.
454 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783257067941

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